Gerechtigkeit fuer Igel
wird.
5 Natürlich haben wir damit nur den Umriß eines Standards: Wir benötigen noch eine angemessene Metrik, Techniken für die Diskontierung von Ungewißheit und so weiter. In vielen gewöhnlichen Situationen wird das so erzielte Urteil dem gesunden Menschenverstand jedoch als offensichtlich genug erscheinen. Das deliktsrechtliche Common Law wird besser durch ein Set miteinander verwobener ethischer und moralischer Prinzipien erklärt als durch irgendwelche Annahmen darüber, daß das Recht auf irgendeine angenommene Form ökonomischer Effizient abzielt.
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Doppelwirkung
Schwierige Fälle
Bisher haben wir uns auf unsere Verantwortung konzentriert, anderen in der Verfolgung unserer eigenen Interessen nicht zu schaden. In der Moralphilosophie ist einem anderen Problem aber weit mehr Aufmerksamkeit gewidmet worden: Dürfen wir einigen wenigen Menschen schaden, um andere zu schützen oder ihnen zu nützen, und wenn ja, wann? Der medizinische Fortschritt versorgt die an dieser Debatte beteiligten Philosophen mit ausgefallenen Beispielen. Nehmen wir an, zwei Patienten liegen im Krankenhaus und beide werden sterben, wenn sie nicht sofort eine Lebertransplantation erhalten. Der Arzt hat aber nur eine Leber, die in Frage kommt. Unter
495 schiedliche Weisen, zu entscheiden, welcher der beiden Patienten die Leber erhält, scheinen uns moralisch vertretbar. Er könnte zum Beispiel eine Münze werfen, den Patienten mit den höheren Überlebenschancen auswählen oder auch denjenigen, der jünger ist, auch wenn die Überlebenschancen des Älteren dank der Transplantation ebenso gut sein sollten. Entscheidet sich der Arzt für eines dieser Entscheidungsverfahren, verletzt er damit nicht die Rechte des Patienten, der verliert, obwohl der Verlierer als Folge seiner Entscheidung schnell sterben wird.
Nehmen wir nun aber an, es gebe nur einen sterbenden Patienten, der eine neue Leber braucht, um zu überleben, es stehe aber keine Leber zur Verfügung. Im selben Krankenhaus liegt jedoch ein älterer Herzpatient, der nur noch wenige Wochen zu leben hat und dessen Leber, wenn er sofort sterben würde, gut geeignet wäre. Der Arzt darf den alten Mann nicht wegen seiner Leber töten. Ebensowenig darf er dessen Beatmungsgerät in der Hoffnung abschalten, daß er sterben wird, oder ihm Medikamente vorenthalten, die ihn noch einige Wochen am Leben halten können, und er darf nicht einmal etwas unversucht lassen, um ihn wiederzubeleben, wenn der alte Mann zufällig in diesem Moment einen Herzstillstand erleidet (angenommen, daß der Patient nicht darum gebeten hat, in einem solchen Fall nicht wiederbelebt zu werden). Diese Urteile scheinen uns alternativlos, zusammen könnten sie aber ein durchaus besorgniserregendes Bild ergeben. Im Fall »zwei Patienten, eine Leber« könnten wir sagen, daß die Leber dem jüngeren Patienten zu geben, der wahrscheinlich noch mehr Lebensjahre vor sich hat, eben gerade eine Achtung vor dem Leben zum Ausdruck bringt. Aber wäre es dann nicht Ausdruck derselben Achtung, den alten Herzpatienten zu töten oder ihn im Fall eines Herzinfarkts sterben zu lassen? Wenige Wochen im Leben eines ans Bett gefesselten alten Mannes würden eingetauscht gegen vermutlich ganze Jahrzehnte aktiven Lebens unseres jungen Patienten.
496 Lassen Sie mich eine Antwort vorschlagen: Der alte Mann hat ein Recht, nicht getötet zu werden, selbst wenn sein Tod von großem Nutzen für andere wäre und selbst wenn er sowieso bald sterben wird. Auch wenn sein Arzt im geheimen hoffen mag, daß die Stromstöße nicht wirken werden, wenn er die großflächigen Elektroden auf den Brustkorb des alten Mannes legt, muß er nichtsdestotrotz sein Bestes tun. Und das gilt nicht nur für einen Arzt, der ja bestimmten Berufspflichten unterliegt. Nehmen wir an, Sie befinden sich zufällig im selben Krankenhaus. Auch Sie dürfen den alten Mann nicht töten, sondern haben, wenn Sie an seinem Zimmer vorbeilaufen und bemerken, daß er zu atmen aufgehört hat, die Pflicht, ihm zu helfen. Eine solche Situation würde klar die Bedingungen erfüllen, unter denen eine solche Pflicht vorliegt: Der alte Mann hätte den Wunsch, gerettet zu werden, Sie können ihn retten, ohne damit mehr als triviale Kosten auf sich nehmen zu müssen, und er stirbt in Ihrer direkten Gegenwart. Sie müssen den Knopf drücken, der das Notarztteam alarmiert. Aber warum? Wenn Sie dem alten Mann Ihren Rücken zukehren würden, wäre das kein Ausdruck Ihrer Geringschätzung des
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