Gerechtigkeit fuer Igel
Reaktionen als so offensichtlich falsch, daß die Unterscheidung für unhaltbar erklärt werden müßte, weil sie in einem hypothetischen Beispiel nicht funktioniert.
Wie steht es um das Ex-ante -Argument für die Ersatzteil-Lotterie? Natürlich geht mein früherer Vorschlag – daß es zulässig ist, Sie zu töten, um an Ihre Organe zu gelangen, weil es in Ihrem Interesse gewesen wäre, sich an einem Lotteriesystem zu beteiligen, hätte es ein solches gegeben – in die Irre. Ein hypothetischer Vertrag ist kein Vertrag. Aber was wäre, wenn es wirklich eine solche Lotterie gäbe und Sie wirklich daran teilgenommen hätten? Sie hätten sich selbst in eine Art Sklaverei verkauft. Stellen Sie sich vor, Ihre Nummer wird gezogen und die Ärzte kommen auf Sie zu. Vielleicht halten Sie es nun für fair, daß Sie im Namen eines Systems getötet werden, von dem Sie ja auch hätten profitieren können. Sie könnten es für Ihre Pflicht halten, sich Ihrem Schicksal zu ergeben. Es ist aber ebenso möglich, daß Sie nun dieses Schicksal doch zu entsetzlich finden, daß das System doch zu ungerecht ist oder daß Ihr Wunsch, nicht zu sterben, einfach alle anderen Überlegungen übertrumpft. Das macht aber keinen Unterschied, da die Entscheidung nicht länger bei Ihnen liegt. Sie haben einem System zugestimmt, in dem Ihnen nicht einmal jenes Mindestmaß an Kontrolle darüber, was mit Ihrem eigenen Körper geschieht, zur Verfügung steht, das wesentlich für Ihre Würde ist. Aus genau diesem Grund dürfen wir uns nicht in die Sklaverei verkaufen, selbst wenn das zu unserem eigenen Vorteil wäre. Wir hätten dann vielleicht ein längeres Leben, aber es wäre nicht
506 mit unserer Würde vereinbar. Freiwillig eine gefährliche Aufgabe zu übernehmen – etwa indem man zum Militär geht –, ist eine ganz andere Sache. Freiwillige haben eine eigene Entscheidung darüber getroffen, was mit ihrem Leben geschehen soll, und sich davon ausgehend jener erhöhten Gefahr ausgesetzt. Damit haben sie aber niemandem die Autorität (im Unterschied zur Macht) übertragen, absichtlich ihr Leben zu nehmen.
Der Natur ihren Lauf lassen
Es gibt einen Unterschied zwischen dem Fall der ertrinkenden Schwimmer aus dem letzten Kapitel und dem ursprünglichen Straßenbahnwagenfall, der hier vielleicht zunächst relevant erscheint, es aber letztlich nicht ist. Jene Schwimmer würden sterben, wenn der Retter nichts unternimmt – wenn er, wie wir vielleicht zu sagen geneigt sind, der Natur ihren Lauf läßt. Im ursprünglichen Straßenbahnwagenfall wird aber der Einzelperson auf dem zweiten Gleis nichts geschehen, solange der Handelnde untätig bleibt. Indem er den Zug umleitet, setzt er sie einer neuen Gefahr aus. Sollte man also in diesem bizarren Fall der Natur freien Lauf lassen? Sollten wir nicht sagen, daß die Entscheidung einzugreifen als solche schon die Verantwortung jener Person für ihr eigenes Leben untergräbt? Daß der Handelnde also einfach seiner Wege gehen sollte?
Es ist nicht klar, was überhaupt damit gemeint ist, der Natur ihren Lauf zu lassen. Wenn es in unserer Natur liegt, zu versuchen, fünf Menschen auf Kosten eines Menschenlebens zu retten, dann läßt man der Natur ihren Lauf, indem man den Wagen umleitet. Aber vielleicht ist mit »Natur« ja nur die nicht vernunftbegabte Natur gemeint, der jener potentielle Retter ihren Lauf läßt, indem er so tut, als sei er gar nicht da. Aber warum sollte er das? Nehmen wir an, wir beide sind nach einem Schiffsunglück gleich weit von einer auf dem Wasser treiben
507 den Rettungsweste entfernt. Anstatt der Natur ihren Lauf zu lassen, was bedeuten würde, daß wir beide ertrinken, versuchen wir beide, an die Rettungsweste zu kommen. Wenn ich verliere, führt die Gegenwart eines Retters, also eines Menschen, der versucht, ein Leben zu retten, zu meinem Tod – weil Sie versuchen, sich selbst zu retten. Warum sollte es einen Unterschied machen, wenn nicht Sie selbst dieser Retter wären, sondern eine dritte Person, die ein besserer Schwimmer ist – etwa Ihre Frau – und Ihnen anstatt mir die Rettungsweste zuwirft? Der von mir erlittene Schaden ist ein bloßer Konkurrenzschaden – ich habe einfach nur Pech gehabt. Wenn Ihre Frau mich aber erschießt, um Ihnen die Rettungsweste zu sichern, habe ich nicht einfach nur Pech gehabt. Sie hätte mir dann unrechtmäßig mein Recht genommen, selbst zu entscheiden, ob mein Leben in jenem Moment zu Ende gehen sollte.
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Auch wenn wir Verbrecher
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