Gerechtigkeit fuer Igel
menschlichen Lebens. Im Gegenteil, es ginge Ihnen ja gerade darum, ein Leben zu retten. Wenn zwei vollkommen Fremde vor Ihren Augen zu ertrinken drohen und Sie nur einen retten können und das dann auch tun, haben Sie keine Hilfspflicht verletzt, die Sie dem anderen gegenüber hätten haben können. Worin unterscheiden sich die beiden Fälle?
Es gibt eine traditionelle und auch heute noch beliebte Antwort, die den Namen »Prinzip der Doppelwirkung« trägt. Diesem Prinzip zufolge ist es zulässig, jemanden sterben zu lassen, wenn das die notwendige Folge der Rettung anderer Personen ist. Es wäre daher zulässig, würde der Arzt einen von zwei Patienten retten, die beide eine Leber benötigen, oder wenn Sie einen von zwei ertrinkenden Schwimmern retten würden, obwohl als Folge der jeweiligen Handlung der andere Patient oder Schwimmer stirbt. Hingegen ist es nicht erlaubt, jeman
497 den zu töten oder ihn auch nur sterben zu lassen, wenn das nicht bloß eine Folge Ihrer Rettung anderer ist, sondern ein Mittel, das Sie zu diesem Zweck ergreifen.
7 Daher ist es nicht zulässig, den alten Herzpatienten zu töten, der sowieso sterben wird, weil der Zweck der Handlung – ihn töten oder ihn sterben lassen – darin bestünde, daß er stirbt, so daß seine Leber verfügbar wird.
Andere ausgeklügelte Beispiele für das Prinzip der Doppelwirkung füllen viele Ausgaben moralphilosophischer Fachzeitschriften. So werden Sie etwa aufgefordert, sich zu fragen, ob es zulässig wäre, einen außer Kontrolle geratenen Straßenbahnwagen, der auf fünf Menschen zurollt, die aus irgendeinem Grund an jenes Gleis gefesselt sind, auf ein anderes Gleis umzulenken, obwohl der Wagen dann eine andere Person überfahren wird, die aus einem ebenfalls unbekannten Grund an dieses andere Gleis gefesselt ist.
8 In einer Variante geht es darum, daß es, wenn es kein anderes Gleis gibt, nicht zulässig wäre, einen übergewichtigen Fremden, der gerade vorbeikommt, auf das Gleis zu stoßen, um so mit seiner Körpermasse den Wagen aufzuhalten, bevor er die anderen überfährt.
Das Prinzip der Doppelwirkung mag in genau derselben Weise seltsam erscheinen wie der Unterschied zwischen den beiden Klapperschlangengeschichten. Warum sollte es einen Unterschied machen, ob Sie die fünf Menschen retten, indem Sie den Wagen auf ein Gleis umlenken, auf dem er nur eine Person überfahren wird, deren Tod Sie nicht beabsichtigt haben, oder indem Sie eine Person auf das Gleis stoßen, damit jener Wagen sie überfährt? In beiden Fällen scheint so ein Handeln zu einem besseren Ergebnis zu führen, als es zu unterlassen. In beiden Fällen stirbt eine Person und fünf überleben. In keinem der beiden Fälle haben Sie verwerfliche oder unwürdige Motive. Warum also sollte der einzige Unterschied in Ihrer mentalen Einstellung – ob Sie den bedauerlichen Tod jener einen Person als Nebenfolge oder als Mittel behandeln – überhaupt moralisch relevant sein?
498 Wir können das Problem noch verschärfen, indem wir aus dem Ex-post -Modus, in dem diese Fälle meistens diskutiert werden, in den Ex-ante -Modus wechseln. Im Ex-post -Modus stellen wir uns einen übergewichtigen Fremden vor, der am Gleis entlangschlendert und stirbt, weil ihn enthusiastische Konsequentialisten vor den Wagen stoßen. Für ihn selbst springt bei dieser Entscheidung nichts heraus. Wenn wir jedoch in den Ex-ante -Modus wechseln, trifft das nicht länger zu. John Harris schlägt eine Art »Ersatzteil-Lotterie« vor, in der Menschen zustimmen, daß immer dann, wenn mindestens fünf von ihnen eine Organtransplantation benötigen und die erforderlichen Organe alle einem einzelnen Körper entnommen werden können, die gesunden Mitglieder dieser Gruppe Lose ziehen, um zu entscheiden, wer von ihnen zu diesem Zweck getötet werden soll.
9 Jedes Mitglied der Gruppe würde durch eine Teilnahme seine Lebenserwartung erhöhen und mit Fortschritten in der Transplantationstechnologie könnte die gewonnene Lebenszeit durchaus beträchtlich sein. Welche Gründe sprechen dagegen, bei einer solchen Lotterie mitzumachen? Natürlich ist die Vorstellung, daß Sie, wenn Ihre Nummer gezogen wird, für die tödliche Operation aufgerufen werden, ebenso furchterregend wie die Möglichkeit, daß Sie sich als einer der Chirurgen an der Ermordung eines der anderen zu beteiligen haben. Allerdings ist es auch keine erfreuliche Aussicht, an Zirrhose oder Organversagen zu sterben – es ist keineswegs
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