Gerechtigkeit fuer Igel
in die Sackgasse führenden Zwei-Systeme-Sichtweise einer integrierten Rechtstheorie anschließen, die von einem einzigen übergreifenden System ausgeht, wird es sowohl in der Rechtsphilosophie als auch in der Rechtspraxis zu einigen Veränderungen kommen. Substantiell würde sich an der alten Konfrontation zwischen Positivismus und Interpretivismus nichts ändern, aber wir hätten es nicht länger mit einem begrifflichen, sondern mit einem politischen Gegensatz zu tun. Ein Vertreter des politischen globalen Positivismus müßte argumentativ begründen, warum man sich bei der Interpretation des Verfassungsrechts oder normaler Gesetze einer politischen Gemeinschaft niemals auf Gerechtigkeit beziehen sollte. Daß sich entsprechende Argumente tatsächlich finden lassen, ist schwer vorstellbar. Eine politisch begründete engere und selektivere Form des Positivismus könnte hingegen manchen Menschen sehr wohl als überzeugend erscheinen. So könnte ein Positivist zum Beispiel argumentieren, daß mehrdeutige oder vage Rechtsvorschriften der Auslegung entsprechend interpretiert werden sollten, die jene gesetzgebenden Instanzen, von denen sie erlassen wurden, gegebenenfalls gewählt hätten. Indem die Interpretation auf diese Weise von einem historischen Test abhängig gemacht wird, so seine Begründung, ließe sich leichter vorhersagen, wie sie ausfallen wird. Ein solcher Test werde Ungewißheit und Umstrittenheit zwar nicht eliminieren, aber doch signifikant reduzieren.
11 Alternativ könnte er auch argumentieren, daß es immer noch demokratischer ist, die Entscheidung gemäß den Ansichten gewählter Mitglieder der Legislative zu treffen, selbst wenn diese schon lang verstorben sind und die Entscheidung daher kontrafaktisch ist, als diese Fragen den moralischen Empfindlichkeiten nichtgewählter Richter im Hier und Jetzt zu überlassen. In
693 jedem Fall würde die Rechtswissenschaft sowohl anspruchsvoller als auch wichtiger werden. Wenn wir die Rechtstheorie als Teil der Politischen Philosophie begreifen, die sowohl in Instituten für Philosophie und Politikwissenschaft als auch in Rechtswissenschaftlichen Fakultäten betrieben wird, würde das beiden Disziplinen mehr Tiefgang verleihen.
Unmoralisches Recht
In den substantiellen Debatten der Rechtstheorie könnte es auch zu weiteren Veränderungen kommen. Wenn wir das Recht als Zweig der politischen Moral begreifen, müssen wir zwischen juridischen und anderen politischen Rechten unterscheiden. Ich habe hierzu den Vorschlag gemacht, daß wir diejenigen Rechte als juridische Rechte verstehen, die in Reaktion auf entsprechende Forderungen auf die beschriebene Weise durchgesetzt werden können. In weiten Teilen der akademischen Debatte wird dieser Vorschlag jedoch zurückgewiesen. So diskutieren Rechtsphilosophen etwa ein altehrwürdiges Rätsel der Rechtswissenschaft, dem so gut wie keine praktische Bedeutung zukommt und das dennoch einen prominenten Platz in rechtstheoretischen Seminaren einnimmt: das Rätsel unmoralischen Rechts. Der vom US -amerikanischen Kongreß vor dem Bürgerkrieg verabschiedete Fugitive Slave Act ordnete an, daß in freie Staaten entflohene Sklaven weiterhin Sklaven seien und von Repräsentanten des Staates in die Sklaverei zurücküberführt werden müssen. Mit der Durchsetzung dieses Gesetzes betraute Richter sahen sich, so wie einige von ihnen es beschrieben, vor ein moralisches Dilemma gestellt. Sie hielten das Gesetz zwar für unmoralisch, aber dennoch für gültiges Recht.
12 Daher sahen sie sich vor die Wahl zwischen drei unerfreulichen Alternativen gestellt: ein von ihnen für eine gravierende Ungerechtigkeit gehaltenes Gesetz durchzusetzen; ihr Amt aufzugeben, was aber nur bedeuten würde, daß andere Re
694 präsentanten des Staates diese Ungerechtigkeit durchsetzen würden; oder mit Bezug auf das, was sie für das Recht hielten, zu lügen.
Diese Beschreibung des Dilemmas scheint die Vorstellung vorauszusetzen, daß es sich bei Recht und Moral um zwei getrennte Systeme handelt und daß sich zwischen der Frage, was das Recht ist, und der Frage, ob Richter dieses Recht durchsetzen sollten, eine klare Unterscheidung treffen läßt. Der integrierte Ansatz bringt die Unterscheidung zwischen diesen beiden Fragen aber praktisch zum Verschwinden. Er unterscheidet Recht vom Rest der politischen Moral dadurch, daß ein juridisches Recht als Recht auf eine richterliche Entscheidung definiert wird. Damit scheinen wir gezwungen zu sein, den Fugitive
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