Gerechtigkeit fuer Igel
und nirgends. Obwohl ich betonen will, daß es sich um eine Frage der politischen Moral handelt, werden gewöhnliche politische Tatsachen vermutlich eine Rolle bei ihrer Beantwortung spielen – was ja durch die unterschiedlichen Abstraktionsgrade schon vorausgesetzt wird. Unabhängig davon, auf welcher Ebene wir die Frage stellen, werden bei einer verantwortungsbewußten Antwort historische Tatsachen bezüglich der Gesetzgebung und vielleicht auch der sozialen Konventionen stets eine Rolle spielen. Wie gewichtig oder ausschlaggebend diese Rolle ist, bleibt dabei kontrovers. Während diese historischen Akte und Praktiken dem Rechtspositivismus zufolge allein ausschlaggebend dafür sind, welche juridischen Rechte Menschen haben, gibt der interpretative Ansatz eine andere Antwort, in der die Prinzipien der politischen Moral ebenfalls eine Rolle spielen. Wenn wir diese Positionen nicht mehr als alternative Versuche, kriteriumsabhängige Begriffe zu präzisieren, sondern als konkurrierende Politische Theorien begrei
688 fen, sind wir in der Lage, einen wichtigen historischen Fehler zu korrigieren. In der Rechtswissenschaft wird allzuoft von Aussagen über das Wesen oder den Begriff des Rechts auf Theorien der Rechte und Pflichten von gewöhnlichen Bürgern und Regierungsvertretern geschlossen. Statt dessen sollte man genau andersherum vorgehen, denn unser Vokabular muß aus der politischen Auseinandersetzung und Argumentation hervorgehen, nicht umgekehrt. Wie wir in Kürze sehen werden, stellen sich einige altehrwürdige Rätsel der Rechtswissenschaft – etwa der Fall unmoralischen Rechts – ganz anders dar, wenn wir diese argumentative Logik ernst nehmen.
Damit haben wir den juridischen Rechten in der von uns entwickelten baumartigen Struktur einen Platz zugewiesen und der Vorstellung eines Recht und Moral umfassenden Systems Gehalt verliehen. Juridische Rechte sind eine besondere Art von politischen Rechten, weil sie in der verlangten Weise in Reaktion auf entsprechende Forderungen durch rechtsprechende und zwangsbewehrte Institutionen durchgesetzt werden können, ohne daß es einer weiteren Intervention der Legislative oder eines anderen gesetzgeberischen Akts bedürfte. Diese Einordnung des Rechts in unsere Struktur hat nichts Rätselhaftes oder Metaphysisches: Sie setzt weder emergierende Kräfte voraus, noch leugnet sie den Unterschied zwischen der Frage, was das Recht ist, und jener, was es sein sollte.
Sein und Sollen: Familienmoral
Diese letzte Behauptung – daß die integrierte Vorstellung eines umfassenden Systems die so wichtige Unterscheidung zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte, nicht leugnet – ist von einiger Bedeutung. Lassen Sie mich das mit einer recht banalen Geschichte verdeutlichen, in der es um die Herausbildung einer besonderen moralischen Norm oder Praxis in einer Familie geht. Sie haben zwei Kinder: eine Toch
689 ter im Teenageralter namens T und einen jüngeren Sohn namens S. T hat versprochen, S auf ein ausverkauftes und heiß erwartetes Popkonzert mitzunehmen, für das sie glücklicherweise zwei Karten ergattern konnte. Nun ruft ein Junge an, mit dem sie schon lange ausgehen wollte, und sie bietet ihm die zweite Karte an. S protestiert und wendet sich an Sie; er will, daß Sie T dazu bringen, ihr Versprechen zu halten. Sofort sind Sie mit einer ganzen Reihe von Fragen konfrontiert: Kommt Ihnen als Elternteil die legitime assoziative Autorität zu, T zu sagen, was sie tun soll, oder S vorzuschreiben, was er zu akzeptieren hat? Kommt Ihnen, einfach weil es sich um Ihre Kinder handelt, eine besondere assoziative Pflicht zu, das, was sie Ihnen sagen, zu tun oder zu akzeptieren? Wenn Sie meinen, daß Sie über diese Autorität verfügen und daß Ihre Kinder diese Verpflichtung haben, ist dann der Einsatz von Zwangsmaßnahmen angemessen – etwa von Drohungen, die T dazu bringen, ihr Versprechen zu halten, obwohl sie das nicht will und auch nicht der Auffassung ist, daß sie es halten sollte? Müssen bestimmte Bedingungen, die über Ihre Überzeugung hinausgehen, daß Ihre Tochter ihr Versprechen halten sollte, erfüllt sein, damit Sie von Ihrer zwangsbewehrten Autorität Gebrauch machen können? Wenn ja, worin bestehen diese? Sind sie auf Ihre Familiengeschichte zurückzuführen oder zumindest von ihr geprägt? Spielt es eine Rolle – und, wenn ja, welche –, wie Sie oder Ihr Partner (falls Sie einen haben) Ihre Autorität in vergleichbaren
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