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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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überhaupt nicht weiß, was aus meinen Überlegungen geschlossen werden sollte.
    Wie genau wir über moralische Fragen nachdenken sollten – das Grundproblem der Moralepistemologie –, ist von höchster Bedeutung für uns und um einer Lösung näherzukommen, müssen wir uns dem gewöhnlichen Begriff der moralischen Verantwortung zuwenden. In diesem und dem nächsten Kapitel will ich versuchen zu zeigen, daß Integrität der rote Faden im Netz der Verantwortung ist und daß wir unserer Verantwortung nur gerecht werden, wenn wir in Fragen der Moralepistemologie interpretativ vorgehen. Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz vorgreifend zusammenfassen, zu welchem Ergebnis ich letztendlich kommen werde. Wir alle haben von Beginn an moralische Überzeugungen, die nicht vollständig deliberativ sind. Woher diese Ideen stammen und wie sie allmählich weiterentwickelt wurden, wird in der Anthropologie und der Ideengeschichte untersucht. Unsere Eltern und unser kulturelles Umfeld geben sie an uns weiter, und vielleicht sind sie bis zu gewissem Grad speziestypischen genetischen Dispositionen geschuldet. Kinder machen zunächst vor allem von einem Gefühl für Fairneß Gebrauch; im Verlauf ihres Heranwachsens erwerben und verwenden sie dann elaboriertere und spezifischere Ideen wie Großzügigkeit, Freundlichkeit, das Einhalten von Versprechen, Mut oder Rechte und Pflichten.
 1 Irgendwann
175 fügen sie ihrem moralischen Repertoire politische Begriffe hinzu, etwa den des Rechts, der Freiheit oder des Ideals der Demokratie. Um dem breiten Spektrum moralischer Herausforderungen gerecht zu werden, mit denen wir im Familienleben, in der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik konfrontiert sind, brauchen wir sehr viel feinmaschigere moralische Ansichten, die wir uns erarbeiten, indem wir unsere eher allgemeinen und abstrakten Begriffe auf eine größtenteils ebenfalls unreflektierte Weise auslegen und dabei stets alle anderen Überzeugungen berücksichtigen oder, anders ausgedrückt, indem wir unsere Werte durch Interpretation miteinander verknüpfen. Unsere moralische Verantwortlichkeit bemißt sich daran, inwieweit es uns gelingt, unsere vielen konkreten Interpretationen so zu integrieren, daß sie sich wechselseitig in einem von uns authentisch vertretenen Netz der Werte stützen. Wenn dieses interpretative Projekt unvollendet bleibt – und ein Erfolg auf der ganzen Linie scheint hier undenkbar –, handeln wir nicht aus voller Überzeugung und können daher nicht vollkommen verantwortlich genannt werden.
    Das ist die These, die ich in diesem Kapitel verteidigen will. Wenn ich mit dieser Einschätzung richtigliege, sehen wir uns mit weiteren Fragen konfrontiert. Was macht eine bestimmte Interpretation der Fairneß oder auch der Großzügigkeit besser als ihre Alternativen? Ist es plausibel, davon auszugehen, daß es eine beste – oder wahre – Auffassung moralischer Begriffe gibt? Mit diesen Fragen will ich mich im siebten Kapitel befassen, wo ich sie in einen größeren Kontext einbetten werde. Dort gehe ich auf Interpretation im allgemeinen ein – nicht nur im Bereich der Moral, sondern auch im Zusammenhang mit anderen interpretativen Genres wie etwa der Literatur, der Geschichtsschreibung und der Rechtsprechung. Ich versuche zu zeigen, daß sich der Prozeß der Interpretation – des Versuchs, ein Ereignis, eine Leistung oder eine Institution zu deuten – auf entscheidende Weise von wissenschaftlichen Untersuchungen unterscheidet. Wenn das tatsächlich der Fall ist und wenn
176 ich recht damit habe, daß moralische Begründungen am besten als Interpretationen moralischer Begriffe zu verstehen sind, täten wir gut daran, moralische Begründungen nicht als sui generis , sondern als Sonderfall einer allgemeinen interpretativen Methode zu verstehen.
    Im achten Kapitel will ich zur Frage der Moral zurückkehren, nun aber mit einem anderen Schwerpunkt. Wenn es sich bei moralischen Begründungen um Interpretationen moralischer Begriffe handelt, müssen wir auch letztere besser verstehen, nicht nur, was eine Interpretation genau ist. Ich schlage vor, bestimmte Begriffe als interpretative Begriffe und somit als Sonderfälle zu behandeln, deren Inhalt ausschließlich durch normative Argumente ausgelegt werden kann. Wenn das der Fall ist, dann handelt es sich bei der Moralphilosophie selbst um ein interpretatives Projekt. Ich schließe den zweiten Teil dieses Buches ab, indem ich versuche, die Moraltheorien von

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