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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Priorität zuschreiben oder eine Reihe von Prinzipien aufstellen können, die in konkreten Fällen zur Schlichtung herangezogen werden. Mir geht es aber um die anspruchsvollere These, daß es keine echten Konflikte zwischen verschiedenen Werten gibt, die geschlichtet werden müssen. In Fällen wie dem von Fallon beschriebenen ist es zugegebenermaßen ganz natürlich zu sagen, daß man sich zwischen Freundlichkeit und Ehrlichkeit hin- und hergerissen fühlt, aber ich würde diese Beobachtung anders erklären, als Sie vielleicht denken.
    Lassen Sie mich kurz erklären, wie die Dinge meines Erachtens stehen: Was moralisches Verantwortungsbewußtsein genau erfordert, ist nie endgültig festgelegt, weil wir die relevanten Begriffe, indem wir sie gebrauchen, immer wieder neu interpretieren. Obwohl sie nicht vollkommen ausgearbeitet und miteinander koordiniert sind, kommen diese Formulierungen tagtäglich zum Einsatz. Die meiste Zeit ist unsere momentane Auffassung von Grausamkeit und Unehrlichkeit vollkommen ausreichend. Wir können beide Laster im allgemeinen problemlos erkennen und auch vermeiden, wenn wir denn guten Willens sind. Aber in bestimmten Situationen, wie etwa der von Fallon beschriebenen, scheinen unsere momentanen Auffassungen uns zu widersprüchlichen Handlungen zu zwingen. In einem solchen Fall sollten wir zwar eingestehen, daß der Eindruck eines Konflikts entsteht, aber nicht ausschließen, daß es sich dabei um ein sehr oberflächliches Problem oder einen Irrtum handeln könnte. Man kann also zwischen zwei Fragen unterscheiden: erstens der, was in einer solchen Situation zu tun ist, und zweitens der, ob überhaupt ein echter Konflikt vorhanden ist. Leider können sie aber in der Realität nicht so sauber voneinander getrennt werden, wie ich es eben suggeriert habe. Um eine Antwort auf die erste Frage zu finden, müssen wir, wie bereits erwähnt, gründlicher über unsere bewußten Werte nachdenken und genauer ausarbeiten, wie wir sie verste
206 hen. Wir fragen uns, ob es wirklich so grausam wäre, dem Autor die Wahrheit zu sagen, oder ob es tatsächlich unehrlich ist, ihm zu sagen, was ihm guttut, solange ich ihm meine Meinung nicht aus Eigeninteresse verschweige. Unabhängig davon, zu welchem Ergebnis wir kommen, handelt es sich hierbei um substantielle Fragen. Wir lösen das Dilemma auf, indem wir unsere Begriffe neu interpretieren, und versuchen dabei, einer Einheit näherzukommen und Fragmentierung zu vermeiden. Wenn wir das tun, sind wir unabhängig davon, wie erfolgreich wir sind, einer integrierten Vorstellung unserer moralischen Verantwortung nähergekommen.
    In meiner Darstellung kommt es also unvermeidlich immer wieder zu Prime-facie -Konflikten, aber wir haben Grund zu der Hoffnung, daß sie sich als illusorisch und temporär erweisen. Obwohl wir immer wieder mit einem neuen einzelnen Konflikt konfrontiert sind, können wir mit einer Umstrukturierung unserer Begriffe auf sie reagieren, die ihn letztendlich beseitigen soll. Wie könnte man die Situation sonst noch beschreiben? Vielleicht auf die folgende Weise: »Moralische Konflikte sind echt, und jede Theorie, die das verneint, geht an der Realität der Moral vorbei. Ein richtiges Verständnis der Werte Freundlichkeit und Ehrlichkeit würde zeigen, daß sie in Fällen wie diesem tatsächlich miteinander konfligieren. Dieser Konflikt ist keine Illusion, die von einer unvollkommenen Interpretation generiert wurde, sondern einfach eine Tatsache.« Aber was um Himmels willen soll das für eine Tatsache sein? Güte und Ehrlichkeit können nicht einfach den einen oder den anderen Inhalt haben, weil moralische Aussagen nicht schlicht wahr sein können. Lassen Sie mich mein inzwischen wohl schon anstrengendes Mantra wiederholen: Es gibt keine moralischen Teilchen, die einfach festlegen, worum es sich bei diesen Tugenden handelt, und auch unsere Sprachpraxis legt keine genauen und konfligierenden Inhalte für die entsprechenden Begriffe fest. Im Bereich der Moral haben wir es wie bereits erwähnt mit Begriffen zu tun, deren richtige Verwendungsweise interpretativ
207 von Menschen gefunden werden muß, die nicht darin übereinstimmen, welche Interpretation die richtige ist. Manche Menschen würden sagen, daß es letztendlich eine freundliche Geste wäre, dem Kollegen die Wahrheit zu sagen, und andere, daß eine gewisse Selbstzensur in einer solchen Situation nicht unehrlich wäre. Zu behaupten, daß all diese Menschen die Worte einfach falsch

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