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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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verwenden, wäre ein Fehler.
    Eine weitere Möglichkeit wäre, daß aus irgendeinem Grund die beste Interpretation unserer Werte es nötig macht zu sagen, daß sie miteinander im Konflikt stehen: daß wir unserer moralischen Verantwortung am besten gerecht werden, indem wir sie auf eine Weise verstehen, die dazu führt, daß wir manchmal unser Streben nach dem einen Wert zugunsten eines anderen einschränken müssen. Das würde aber bedeuten, daß sie nicht einfach in Konflikt stehen, weil dem eben so ist, sondern weil ein solches Verständnis dieser Werte für unsere Zwecke das beste ist. Das ist durchaus denkbar und vielleicht sogar plausibel. Damit wäre aber nicht gezeigt, daß uns Konflikte einfach sperrig im Weg stehen und als Hindernis anerkannt werden müssen, sondern daß wir diesen Umstand auf eine Weise interpretieren können, der die Werte in gewisser Weise miteinander versöhnt, da die Konflikte als Kollaboration auf einer tieferen Ebene verstanden werden.
    Brauchen wir den Wahrheitsbegriff überhaupt?
    Wir sind nun sozusagen im Vorgebirge eines vollen Werteholismus angekommen, nämlich bei der festen Überzeugung des Igels, daß alle echten Werte ein ineinandergreifendes Netzwerk bilden und daß jede unserer Überzeugungen in der Sphäre der Moral, der Ästhetik und der Ethik dazu beiträgt, alle anderen Überzeugungen in diesen Bereichen zu stärken. In der Moral nach Wahrheit zu streben bedeutet, sich um ein kohärentes System zu bemühen, das wir von ganzem Herzen bejahen. Wir
208 können uns selbst nicht dazu zwingen, eine bestimmte Position nur deswegen zu vertreten, weil sie gut ins Bild paßt und unsere anderen Ansichten zu einer Einheit zusammenfügt. Wenn wir sie nicht zugleich für wahr halten, müssen wir eine andere Auffassung ausarbeiten, die mit dem übereinstimmt, was wir tatsächlich glauben. Ebensowenig können wir uns damit zufriedengeben, Überzeugungen zu haben, die nicht zueinander passen. Kurz gesagt, wir müssen Positionen entwickeln, die wir tatsächlich für wahr halten und die ineinandergreifen. Dazu ist ein interpretatives Vorgehen notwendig, weil wir versuchen müssen, jeden Wert in all seinen Aspekten und Assoziationen im Lichte aller anderen Werte besser zu verstehen. Vollkommen wird uns das nie gelingen, und selbst wenn wir uns alle gemeinsam darum bemühen, können wir nicht sicher sein, daß wir darin zumindest einigermaßen erfolgreich sind.
    Das bedeutet nicht, daß mein Ansatz relativistisch ist. Daß ein moralisches Urteil nur für diejenigen wahr ist, die es für wahr halten, scheint mir der falsche Schluß zu sein. Ich will auch keine metaphysische Behauptung aufstellen, sondern nur beschreiben, wie Sie vorgehen müssen, wenn es Ihnen um die Wahrheit geht. Es ist denkbar, daß zwei Menschen, die beide verantwortlich argumentieren und von dem, was sie denken, fest überzeugt sind, zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich dessen kommen, was richtig oder falsch ist, sich aber darüber einig sind, daß es in diesem Zusammenhang eine richtige und eine falsche Antwort gibt. Ein Dritter ist hier vielleicht anderer Meinung und erklärt, aus der Uneinigkeit der beiden könne geschlossen werden, daß jeder Versuch der Wahrheitsfindung scheitern wird. Dabei handelt es sich aber nur um eine weitere Ansicht, eine dritte moralische Position, die wie die beiden anderen genau geprüft werden muß. Wenn es dem Dritten nicht gelingt, die ersten beiden zu überzeugen, ihre geteilte Überzeugung aufzugeben, steht er nicht besser da als sie, denn in Meinungsverschiedenheiten steht niemand auf philosophisch festem Boden. Jeder muß sich damit begnügen, das zu vertre
209 ten, was er eingedenk seiner Verantwortung für wahr hält. Wir alle müssen uns aus dem Fenster lehnen, wenn auch nicht unbedingt aus demselben.
    Warum sollte man angesichts dessen überhaupt noch von Wahrheit reden? Warum geben wir dieses Ideal nicht auf und sprechen nur noch von Verantwortung? Oft scheint es Menschen lieber zu sein, ihre moralischen Ansichten nicht wahr zu nennen, sondern zu sagen, sie seien »für mich wahr« oder daß sie »für mich funktionieren«. Manchmal wird das als Eingeständnis einer skeptischen Haltung interpretiert, meines Erachtens geht es aber in Wirklichkeit darum, daß diese Menschen anstelle der Wahrheit Verantwortungsbewußtsein für sich beanspruchen. Ich habe in diesem Kapitel bereits erklärt, daß der Wert der Moralphilosophie mehr mit ihrem Beitrag zum Thema der

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