Gerechtigkeit fuer Igel
Philosophen, die keinen Weitblick haben, ihre moralischen Positionen als axiomatische Systeme darstellen. Manche Utilitaristen sagen zum Beispiel, daß all unsere Pflichten aus der grundsätzlichsten Pflicht abgeleitet sind, zu tun, was auf lange Sicht möglichst viel Glück und möglichst wenig Leid herbeiführt. Wenn aber andere Philosophen anfangen, Gegenbeispiele anzuführen und das System auf diese Weise problematisieren – indem sie zum Beispiel sagen, daß diese stipulierte Grundpflicht verlangen könnte, einzelne unschuldige Menschen zu foltern, um zu verhindern, daß Milliarden anderer eine kleine Unannehmlichkeit auf sich nehmen müssen –, versuchen die Vertreter dieses Ansatzes, Gründe zu finden, warum ihr Prinzip nicht diese Konsequenz hätte.
7
Utilitaristen könnten auch versuchen, ihren Ansatz anzupassen, um das zu vermeiden, oder zeigen, daß es trotz solcher un
199 erquicklicher Konsequenzen nichtsdestotrotz gerechtfertigt ist, dem Prinzip zu folgen; zum Beispiel weil es gewährleistet, daß alle Menschen gleichermaßen berücksichtigt werden. Sie werden aber sicher nicht antworten: »Es ist schade, daß unser Prinzip diese Konsequenzen hat, aber so ist das Leben. Es ist nun einmal einfach wahr.« Wir wären entsetzt, wenn sie so etwas sagen würden. Selbst bei sehr abstrakten moralischen Prinzipien ist es nicht absurd, eine Rechtfertigung zu verlangen, und unter bestimmten Umständen wäre es unverantwortlich, diesem Verlangen nicht zu entsprechen. Wir müssen auch hier vorsichtig sein, uns nicht von der Gewohnheit von Philosophen, sich auf »Intuitionen« zu berufen, fehlleiten zu lassen. Wenn damit einfach auf eine Überzeugung verwiesen wird, ist das kein Problem. Auch als Eingeständnis, daß man keine weiteren Gründe für diese Überzeugung anzubieten hat, ist das durchaus legitim. Man sollte aber nicht von Intuitionen sprechen, um so die Möglichkeit weiterer Gründe zu leugnen.
Lassen Sie mich diesen Punkt an einer anderen Unterscheidung verdeutlichen. In den formalen und informellen Wissenschaften versuchen wir, Aussagen zu belegen , während wir sie in der Sphäre der Werte argumentativ verteidigen. Belege zeigen an, mit welcher – teilweise extremen – Wahrscheinlichkeit etwas der Fall ist, aber sie sind nicht konstitutiv für die Wahrheit jener Aussage. Die weitere Tatsache, die sie anzeigen, ist vollkommen unabhängig beziehungsweise wirklich eine andere Tatsache. Wenn es auf einem anderen Planeten in einer fernen Galaxie Wasser gibt, dann ist die Aussage, daß es dort Wasser gibt, wahr. Die Tatsache, daß es dort Wasser gibt, macht sie wahr – ihre Wahrheit gründet in dieser Tatsache. Unter Umständen stehen uns bestimmte Belege für diese Wahrheit zur Verfügung, vielleicht in Form spektrographischer Daten, aber es wäre vollkommen falsch zu denken, daß diese Belege die Aussage wahr machen .
Im Fall moralischer Urteile läßt sich diese Unterscheidung nicht treffen. Wenn wir zum Beispiel denken, daß es unmora
200 lisch von den Vereinigten Staaten war, den Irak anzugreifen, könnten wir als Argument anführen, daß die Bush-Regierung sich in fahrlässiger Weise auf falsche Informationen berufen hat. Wenn wir damit recht haben, belegt die Fahrlässigkeit der Regierung nicht die weitere separate Tatsache der Verwerflichkeit jenes Krieges, die wir auch auf andere Weise aufzeigen könnten, sondern ist vielmehr ein Teil dessen, was diesen Krieg unmoralisch gemacht hat. Im Bereich des Rechts läßt sich das leicht verdeutlichen. Wenn die Staatsanwaltschaft der Jury Fingerabdrücke vorlegt, führt sie damit einen Beleg dafür an, daß der Angeklagte sich am betreffenden Ort aufgehalten hat. Wenn sie hingegen auf einen Präzedenzfall verweist, um zu zeigen, daß eine bestimmte Verteidigungsstrategie nicht rechtlich anerkannt wird, ist das ein Argument für ein bestimmtes Urteil. Der Präzedenzfall ist kein Beleg einer anderen und unabhängigen rechtlichen Tatsache. Die Wahrheit der Aussage der Staatsanwaltschaft beruht, wenn die Argumentation stichhaltig ist, teilweise auf dem Präzedenzfall.
Diese zweite Unterscheidung erklärt sich aus der zuvor erwähnten. Weil Werturteile nicht schlicht wahr sein können, müssen sie es aufgrund von Argumenten sein. Urteile wie etwa das, daß eine bestimmte Art der Verteidigung nicht rechtmäßig ist oder daß es unmoralisch von den Vereinigten Staaten war, den Irak anzugreifen, können nur wahr sein, wenn es entsprechende rechtliche
Weitere Kostenlose Bücher