Gerechtigkeit fuer Igel
gehören zahlreiche zunächst recht unterschiedlich wirkende Aktivitäten. Zum Aufgabenbereich eines Juristen gehört es, Verträge, Testamente, Gesetzestexte, Präzedenzfälle, die Idee der Demokratie oder den Geist einer Verfassung zu interpretieren, und es bleibt immer heißumstritten, inwieweit die Methoden, die dabei zur Anwendung kommen, auf andere Kontexte übertragbar sind. So unterschiedliche Aussagen wie die, daß der Wert eines Kunstwerks in der moralischen Bildung liegt, daß Piero della Francescas Auferstehung Christi kein christliches, sondern ein heidnisches Gemälde ist, und daß Jessica aus Shakespeares Kaufmann von Venedig ihren Vater Shylock verrät, weil sie es haßt, jüdisch zu sein, werden von Literatur- und Kunstkritikern als Interpretationen betrachtet.
In diesem Kapitel geht es um einen allgemeinen Begriff der Interpretation. Ich versuche zu zeigen, daß all jenen Genres und Weisen der Interpretation bestimmte Merkmale gemeinsam sind und daß sie deshalb der Wissenschaft als vollwertiger Partner zur Seite gestellt werden kann: Zusammen bilden sie im Rahmen eines umfassenden Dualismus des Verstehens
213 die zwei großen Sphären intellektueller Tätigkeit. Im weiteren werde ich genauer auf die folgenden Fragen eingehen: Kann Interpretation eine Form der Wahrheitsfindung sein? Ist die Behauptung plausibel, daß eine bestimmte Auslegung des ersten Zusatzartikels zur US -amerikanischen Verfassung, eine bestimmte Lesart von Yeats' Gedicht Among School Children oder eine bestimmte historische Deutung der Amerikanischen Revolution wahr ist und alle konkurrierenden Interpretationen falsch? (Oder anders ausgedrückt: daß eine am stichhaltigsten oder genauesten ist und die anderen ihr in unterschiedlichen Graden nachstehen?)
Oder müssen wir eingestehen, daß es keine wahren und falschen Interpretationen solcher Gegenstände gibt, keine Auslegungen, die mehr oder weniger zutreffend sind, sondern nur unterschiedliche Lesarten? Und worin würde jene Wahrheit bestehen, wenn wir denn zugeben würden, daß eine bestimmte Interpretation tatsächlich wahr (oder auf einzigartige Weise gelungen) ist? Was macht eine Lesart von Yeats' Gedicht oder einer Verfassung wahr und stichhaltig, eine andere hingegen falsch und oberflächlich? Bedeutet Wahrheit in der Interpretation etwas ganz anderes als in der Wissenschaft? Sind diese beiden Bereiche der Erkenntnis in ausreichendem Maße unterschiedlich, um gerechtfertigt von einem umfassenden Dualismus zu sprechen? Kann ein adäquates Verständnis der Interpretation einen internen Skeptizismus zur Folge haben? Kann es sein, daß es in Wirklichkeit nicht die eine wahre Auslegung gibt, sondern nur zahlreiche gleichermaßen gute Lesarten?
Die Tatsache, daß wir in jedem der scheinbar so unterschiedlichen Genres, die ich anfangs aufgezählt habe, von Interpretation sprechen, beweist natürlich nicht, daß all die damit bezeichneten Aktivitäten wirklich ein wichtiges Merkmal teilen. Sie könnten auch durch das, was Wittgenstein eine »Familienähnlichkeit« nennt, verbunden sein. Es ist durchaus denkbar, daß juristische Begründungen etwas mit der Interpretation in Gesprächen gemeinsam haben, aufgrund dessen es sinnvoll ist
214 zu sagen, daß Juristen Gesetze interpretieren, und daß die Arbeiten von Historikern ein anderes Merkmal mit der Interpretation in Gesprächen gemeinsam haben, so daß wir auch in diesem Zusammenhang Grund haben, dieses Wort zu verwenden, daß aber die Tätigkeiten von Juristen und Historikern nichts miteinander teilen, das eine gemeinsame Klassifikation rechtfertigen würde.
1 So etwas gibt es immer wieder; es könnte sein, daß die Sprache uns hier irreführt und in Wirklichkeit nichts vorliegt, das sinnvoll als Interpretation in einem allgemeinen Sinn bezeichnet werden kann.
2
Meines Erachtens gibt es so etwas wie eine Interpretation im allgemeinen, die abstrakt ist und keinem bestimmten Genre zugerechnet werden kann, nicht. Stellen Sie sich vor, auf der weißen Wand vor Ihnen würden plötzlich farbige Lichtflecken auftauchen und man würde Sie auffordern, diese zu deuten. Bevor Sie diese Aufgabe überhaupt in Angriff nehmen könnten, müßten Sie irgendeine vorläufige Hypothese darüber aufstellen, wie diese Lichter zustande gekommen sind. Sie könnten etwa entscheiden, daß es sich um eine verschlüsselte Botschaft vielleicht außerirdischen Ursprungs handelt, daß ein Künstler eine Lichterschau veranstaltet, daß die Flecken an
Weitere Kostenlose Bücher