Gerechtigkeit fuer Igel
Kraft haben. Wir sollen zum Beispiel ehrlich sein und niemals grausam. Wenn wir dem nicht gerecht werden, haben wir uns falsch verhalten. Ein Desiderat hingegen ist zwar ebenfalls etwas, um das wir
203 uns bemühen, aber wenn der Erfolg ganz oder teilweise ausbleibt, heißt das nicht unbedingt, daß hier von einem falschen Verhalten die Rede sein muß. Desiderate konfligieren fast immer, etwa wenn ich einen Zitronenkuchen backen und eine Zitrone auf Vorrat haben will, um mir später eine Limonade zu machen, aber nur eine Frucht zur Verfügung habe. Politische Gemeinschaften wollen typischerweise ein Höchstmaß an öffentlicher Sicherheit, ein möglichst gutes Bildungssystem, ein möglichst effizientes Transportsystem und ein möglichst leistungsstarkes Gesundheitssystem haben, ihr Budget ist aber stets begrenzt.
Ob Werte ebenfalls miteinander in Konflikt stehen können, ist eine wichtige Frage, die wir sehr ernst nehmen sollten. Natürlich sind sie oft nicht mit bestimmten Desideraten vereinbar. Wir wollen möglichst gut vor Terroranschlägen geschützt sein, aber es kann sein, daß bestimmte Maßnahmen nicht mit dem Wert der Freiheit oder der Würde vereinbar sind. Manchmal kann ein scheinbarer Konflikt durch genaueres Nachdenken aufgelöst werden. So könnten wir zu dem Schluß kommen, daß jene Sicherheitsmaßnahmen unbedenklich sind, wenn wir ein besseres Verständnis davon entwickeln, was Freiheit eigentlich bedeutet. In anderen Fällen tritt der Konflikt durch ein genaueres Hinsehen nur noch stärker hervor, und wir erkennen, daß das Foltern von Terrorverdächtigen bedeutet, die moralische Integrität unseres Staates anderen Erwägungen zu opfern. Hier liegt aber kein Konflikt vor, weil moralisch gesehen eindeutig gefordert ist, derartige Maßnahmen aufzugeben.
Uns geht es hier aber um wirkliche moralische Konflikte – also um mindestens zwei Werte, die im Widerspruch zueinander stehen. Richard Fallon führt zur Illustration eine recht unangenehme Situation an.
9 Ein Kollege bittet Sie, ihm Ihre Meinung zum Manuskript seines neuen Buches mitzuteilen, und Sie halten es für schlecht. Ihm offen zu sagen, was Sie denken, wäre verletzend, es zu verschweigen wäre unehrlich. Das wirft zwei Fragen auf. Die erste lautet: Wenn wir feststellen,
204 daß hier die Gründe für Ehrlichkeit weder stärker noch schwächer sind als jene für freundlicheres Verhalten, müssen wir daraus schließen, daß es keine richtige Antwort darauf gibt, was Sie tun sollen? Und sind Sie zweitens selbst dann, wenn eine richtige Antwort existieren sollte, unabhängig davon, wie Sie sich entscheiden, gezwungen, einem moralischen Wert zuwiderzuhandeln? Läuft in einer solchen Situation selbst richtiges Verhalten letztendlich darauf hinaus, etwas Verwerfliches zu tun? Besteht hier ein echter Konflikt zwischen Freundlichkeit und Ehrlichkeit?
Ich habe im fünften Kapitel einige beispielhafte Situationen beschrieben, die mit jener ersten Frage zusammenhängen, und versucht zu zeigen, wie wichtig es ist, zwischen Ungewißheit und Unbestimmtheit zu unterscheiden – ein Punkt, der auch hier von Bedeutung ist. Natürlich kann es sein, daß Sie unsicher sind, ob in dieser Situation Grausamkeit oder Unehrlichkeit besser wäre – oder weniger schlecht, aber wie Sie zu der alternativen Einschätzung gelangen könnten, daß tatsächlich keine der Optionen besser wäre als die andere, ist sehr viel weniger klar. Es gibt hier keine nackten moralischen Tatsachen, und wenn wir in der Sphäre der Werte für eine bestimmte Position argumentieren wollen, müssen wir, wie bereits gesehen, eine Kette von Wertüberzeugungen aufstellen, von denen jede einzelne durch wieder andere Urteile der gleichen Art bestätigt wird. Auf welcher Basis sind Sie also berechtigt zu behaupten, daß jemand unabhängig davon, wieviel Zeit und Mühe er investiert, keinen Grund finden wird, dem einen Wert in dieser konkreten Situation moralisch mehr Gewicht zu geben als dem anderen? Oder gar noch gewagter, daß es keinen solchen Grund geben kann?
Stehen Ehrlichkeit und Freundlichkeit manchmal im Widerspruch zueinander? Da die Einheit der Werte die zentrale These dieses Buches ist, muß ich das verneinen. Damit will ich mehr sagen, als daß wir unsere einzelnen konkreten moralischen Urteile in eine Art Überlegungsgleichgewicht bringen
205 können, was mit dem Eingeständnis vereinbar wäre, daß es zuweilen Konflikte gibt, wir aber einfach dem einen Wert eine höhere
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