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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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konkreteren Beispiel zu. Im Jahr 2009 hat ein Artikel in der New York Review of Books untersucht, wie stark sich die Rezeption von Antoine Watteau, einem französischen Maler des 18. Jahrhunderts, seit seiner Zeit gewandelt hat.
11 Im Verlauf der Jahrhunderte wurde Watteaus Werk auf sehr unterschiedliche Weise interpretiert. Anfangs wurde es als fröhlich, positiv, heiter und sogar etwas effeminiert angesehen, als Ausdruck der unge
230 stümen Auflehnung gegen das kulturelle Joch, unter das der mürrische Sonnenkönig die genußsüchtigen Pariser gezwungen hatte, als Brücke zum Rokoko. Aufgrund solcher Zuschreibungen wurde Watteau zunächst gefeiert und später dann belächelt. Im Verlauf des sehr viel strengeren 19. Jahrhunderts konnte eine neue Orthodoxie Fuß fassen. Wie ein bekannter Kritiker des 20. Jahrhunderts bemerkt, hielt man seine Gemälde nicht länger für frivol, sondern für »robust und männlich« und von Einsamkeit und Melancholie geprägt. In seinem in dem zitierten Artikel besprochenen jüngsten Buch will dieser Kunstkritiker »jene Gemälde die Welt der Gegenwart absorbieren lassen, und umgekehrt. Im Zuge dessen kommt es zu einer Überlagerung des Neuen in Watteaus Werk durch die vielen Versionen der Modernität, die auf ihn folgten. [… Sein Portrait eines Pierrots mit dem Titel Gilles ] führt uns zur Renaissance der Pantomime im Paris der 1830er Jahre und zum Aufgreifen jener Renaissance in Marcel Carnés filmischem Meisterwerk von 1949, Les Enfants du Paradis  – und natürlich auch zu Cézannes und Picassos piktoralen Spielereien mit Pierrots in den 1880er Jahren beziehungsweise nach dem Ersten Weltkrieg. Diese Verbindungen erweitern unser Verständnis dessen, worum es Watteau ging […]. Gilles zeugt von einer typisch modernistischen Unruhe.«
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    Dieses Kaleidoskop widersprüchlicher Interpretationen ist nicht Ausdruck revolutionärer Entdeckungen über die künstlerischen Absichten Watteaus. Es bringt auch nichts, einfach zu behaupten, daß Kritiker mit der Zeit immer mehr Dinge in den Bildern sahen, die zunächst übersehen worden waren. Wir müssen vielmehr auch erklären, warum verschiedene Interpreten so Unterschiedliches in ihnen sahen. Es scheint unbestreitbar, daß jeder dieser Kritiker der Meinung war, mit seiner Interpretation recht zu haben, während alle anderen vollkommen falsch beurteilten, »worum es Watteau ging«. Um dem gerecht zu werden, genügt es nicht, sich darauf zu beziehen, was die jeweiligen Kritiker über die Gedanken und Absichten von Wat
231 teau dachten; wir müssen vielmehr herausarbeiten, welchen Wert sie der Kunst als solcher zuschreiben und wie sie ihre eigene Rolle in der Produktion dieses Wertes verstehen.
    Wichtige Unterscheidungen
    Kollaborative, erklärende und begriffliche Interpretation
    Am Beispiel des Rechts läßt sich die von mir bisher nur skizzenhaft dargestellte Werttheorie gut illustrieren. Um eine bestimmte Interpretation zu rekonstruieren, arbeiten wir drei entweder explizit oder implizit in ihr enthaltene Elemente heraus: erstens die im Hintergrund stehende Praxis oder Tradition, der sie angehört (Gesetzesauslegung oder Verfassungsinterpretation); zweitens eine Reihe von Annahmen über den Zweck jener Praxis (eine bestimmte Demokratietheorie, die Autorität zwischen Parlament und Gericht aufteilt); und drittens die Behauptung, daß die vorgeschlagene Auslegung diesen Zweckannahmen besser gerecht wird als andere. Diese noch immer skizzenhafte Darstellung ist in verschiedener Hinsicht sehr artifiziell und berücksichtigt zum Beispiel nicht das Zusammenspiel der drei unterschiedenen Schritte. Mein Verständnis dessen, was der Grundsatz des gleichen Rechtsschutzes bedeutet und von uns verlangt, baut nicht nur auf meiner Position hinsichtlich der Rolle verfassungsrechtlicher Schranken in der Demokratie auf, sondern prägt jene zugleich. Interpretationen sind holistisch. Denken Sie daran, wie in der Moralphilosophie versucht wird, konkrete moralische Ansichten mit abstrakten rechtfertigenden Prinzipien in einem Prozeß der wechselseitigen Neuinterpretation zu integrieren; ebenso bemühen sich Interpreten, wenn auch normalerweise unbewußt, ihre Hintergrundannahmen und ihre konkreten interpretativen Einsichten in Einklang zu bringen. Es mag vorkommen, daß uns eine bestimmte, sehr unerwartete Interpretation eines Theaterstücks – etwa, daß der
232 Königsmord in Hamlet als verzweifelter Verteidigungsversuch einer unerlaubten Liebe

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