Gerechtigkeit fuer Igel
sollte.
Aus diesem Grund können wir Interpretationen letztendlich nur mit anderen Interpretationen begründen, ebenso wie wir moralische Überzeugungen nur über andere moralische Überzeugungen rechtfertigen können. Ob eine bestimmte Deutung gelungen ist – oder, anders ausgedrückt, ob sie die wahre Bedeutung ihres Gegenstands zum Ausdruck bringt –, hängt davon ab, ob wir die richtige interpretative Praxis gewählt haben, ob wir den Zweck jener Praxis richtig erkannt haben und ob sie diesen Zweck, für diesen Gegenstand, tatsächlich erfüllt. Eine Interpretation kann also in drei Phasen unterteilt werden: Wir individuieren soziale Praktiken, etwa indem wir davon ausgehen, im Bereich des Rechts und nicht der Literaturkritik tätig zu sein, und interpretieren sie damit ein erstes Mal; dann sprechen wir zweitens dem von uns als relevant erkannten Genre oder Subgenre eine Kombination von Zwecken zu und versuchen drittens herauszuarbeiten, was jene Zwecke in einer bestimmten Situation am besten erfüllt. Raum für eine skeptische
226 Sichtweise gibt es in allen drei Phasen, besonders aber in den letzten beiden, da man durchaus zu dem Ergebnis kommen kann, daß es keine richtige Antwort auf die Frage gibt, welchem Wert ein bestimmtes Genre verpflichtet sein sollte oder was diesem Wert gegebenenfalls in einem konkreten Fall am besten dient. Ich werde in diesem Kapitel noch genauer auf diese Möglichkeiten eingehen, will aber an dieser Stelle noch einmal betonen, daß eine solche Sichtweise auch nur wieder eine Interpretation ist, die ebensosehr von bestimmten Annahmen über Werte abhängt, wie all die positiven Interpretationen, denen sie widerspricht.
In welchem Ausmaß die Antworten auf diese Fragen innerhalb einer bestimmten interpretativen Gemeinschaft divergieren oder konvergieren, bestimmt, ob das Interpretieren in dieser Gemeinschaft zu voller Blüte kommt oder in bloße Unterschiede zerfällt. In der ersten Phase ist Übereinstimmung besonders wichtig. Nur wenn ein hoher Grad an Einigkeit darüber gegeben ist, wann wir es mit einer Literaturinterpretation zu tun haben, kann es innerhalb dieses Bereichs echte Konflikte geben. In der zweiten Phase ist immer noch mehr Konvergenz notwendig als in der dritten: Nur wenn Juristen sich darüber einig sind, daß es sich bei der Auslegung eines Gesetzes um ein politisches Unterfangen handelt, kann es eine als solche erkennbare Gesetzesinterpretation geben. Wieviel Einigkeit in den verschiedenen Phasen notwendig ist, um eine bestimmte Praxis zu ermöglichen, ist nicht a priori festgelegt. Wir können nur ex post entscheiden, ob ein bestimmter Grad oder eine Form von Divergenz toleriert werden kann, indem wir versuchen einzuschätzen, ob eine konkrete Praxis noch produktiv ist oder entsprechende Debatten im Sand verlaufen.
Vielleicht kommt Ihnen, entsprechend meiner anfänglichen Warnung, diese sehr skizzenhafte Darstellung einer Werttheorie der Interpretation etwas undurchsichtig vor, aber ich denke, daß es sich als vorteilhaft erweisen wird, schon einen groben Eindruck von meinem Ansatz erhalten zu haben, bevor ich
227 ihn anhand von Beispielen näher erläutere. Lassen Sie mich an dieser Stelle zwei wichtige Punkte klarstellen. Wenn man in einem bestimmten interpretativen Genre tätig ist, steht einem meistens keine vollkommen ausgearbeitete Theorie über die Grenzen und Ziele dieses Genres zur Verfügung, obwohl manche Akademiker hier eine Ausnahme bilden. Üblicherweise häufen Interpreten im Rahmen ihrer Interpretationserfahrungen unreflektiert eine Reihe expliziter Überzeugungen an, in denen zum Beispiel einfach koexistierende und unhinterfragte Annahmen einer bestimmten interpretativen Subkultur, der sie aufgrund ihres Bildungshintergrunds angehören, zum Ausdruck kommen können. Die bereits erwähnte Tatsache, daß wir unsere entsprechenden Urteile oft nicht ausdrücken können, kann teilweise damit erklärt werden – warum eine bestimmte Interpretation uns manchmal ungemein plausibel erscheint und wir glauben, sie einfach in dem jeweiligen Gegenstand erkennen zu können, obwohl wir nicht genau zu erklären in der Lage sind, warum sie richtig ist.
Ich behaupte also nicht, daß uns stets eine klar beabsichtigte und reflektierte Wertestrategie anleitet, wenn wir etwas interpretieren, oder daß wir uns bewußt sind, mit jedem Gesetz und jedem Gedicht immer zugleich eine umfassendere Praxis mitzuinterpretieren. Das auf Werten beruhende dreigliedrige
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