Gerechtigkeit fuer Igel
als er sagte »Lassen Sie mich Ihre Kerze anzünden, Miß Archer!«.
16
Daß Brooks und Leavis unterschiedlicher Meinung darüber sind, was eine literarische Meisterleistung ausmacht, kommt auch darin zum Ausdruck, wie sie jeweils Yeats' schriftstellerisches Werk interpretieren. Leavis hielt nur wenige seiner Gedichte für große Errungenschaften, da ihm die meisten moralisch fragwürdig erschienen, während Brooks Yeats für einen großen Dichter hielt, weil er in seinen Gedichten Nietzsches Philosophie zu entdecken glaubte. Das wird zum Beispiel an Leavis' Interpretation von Among School Children deutlich – für ihn eines der wenigen großen Gedichte von Yeats, weil ihm »die Macht gewisser und unwiderstehlicher Wahrheit« zukomme
17 –, wenn wir sie mit Brooks' Interpretation des Gedichts vergleichen.
18 Legen Sie dann beide Lesarten neben die Interpretation des Yeats-Biographen Roy Foster, der damit ansetzt, zu beschreiben, wie Yeats' Besuch der St. Otteran's School in Waterford seine Ansichten über Erziehung beeinflußt habe. Yeats habe das Gedicht wenige Wochen nach jenem Besuch verfaßt, den er »mehrmals« in seinen Reden vor dem irischen Senat erwähnte. Foster ist überzeugt, daß mit dem »Leda-Leib«, den er in einem Schulkind zu erkennen glaubt, Yeats' ehemalige Geliebte Maud Gonne gemeint ist, die infolge einer schweren Kindheit eine »hohle Wange« gehabt habe. Zudem sei das Gedicht »politisch aufgeladen« und thematisiere »die von klassischen Erziehungstheorien verkörperten unzulänglichen Herangehensweisen an ein philosophisches Weltverständnis«.
19
Jahrzehnte vor ihm hatte Brooks diese beiden Gedanken be
237 reits angedacht und vor ihnen gewarnt: Man müsse wohl kaum betonen, daß es sich bei dem Gedicht nicht um eine »abstrakte Aussage« über Erziehung handle, und daß es ein Fehler wäre, den »Leda-Leib« mit Gonne gleichzusetzen – und Brooks fügte hinzu, daß für einen solchen Fehler wahrscheinlich »die Gefahren einer autobiographischen Voreingenommenheit« verantwortlich zu machen seien.
20 Wenden wir uns nun noch einem Literaturkritiker ganz anderer Art zu, nämlich Northrop Frye, der nicht mit Brooks in die Hymne des »New Criticism« einstimmen wollte, der zufolge Wert und Bedeutung einem Kunstwerk selbst innewohnen. Ein literarisches Meisterwerk erfordere vielmehr einen Rückgriff auf archetypische kulturelle Mythen. (Frye interpretierte die Friedhofsszene in Hamlet als ein Aufgreifen des Mythos vom Liebestod, also der opernhaften Verbindung von Liebe und Tod.
21 ) Während Leavis Yeats' Sailing to Byzantium als Optimismus und Pessimismus vereinigende Meditation liest, geht es Foster zufolge »nicht so sehr um eine himmlische Stadt auf Erden«, sondern um »das Aufgehen des Künstlers im Schöpfungsakt«; Frye hingegen sah das Gedicht als herausragendes Beispiel einer »komischen« Vision.
22
Gehen wir von kollaborativen zu erklärenden Interpretationen über, so lassen sich Wertzuschreibungen auf verschiedenen Ebenen beobachten. Eine Möglichkeit, ein historisches Ereignis zu erklären, besteht darin, bestimmten Akteuren bestimmte Absichten zuzuschreiben, zum Beispiel den österreichischen Diplomaten, die auf die Ermordung des Erzherzogs in Sarajevo reagierten. Eine ganz anders gelagerte Möglichkeit ist, einer großen Gruppe von Menschen eine kollektive Intention zuzuschreiben, die nicht auf die Intentionen einzelner Menschen reduziert werden kann, indem man zum Beispiel behauptet, daß die Unabhängigkeitsbestrebungen der nordamerikanischen Bevölkerung nicht auf politische, sondern auf wirtschaftliche Beweggründe zurückgingen. Die allgemeine Herangehensweise eines Historikers – welche Zweckzuschreibungen er gegebenenfalls für wichtig und relevant hält – hängt aber stets davon ab,
238 worum es seines Erachtens in historischen Interpretationen geht und welchen Wert sie haben. Obwohl alle entsprechenden Ansätze darauf abzielen, die Vergangenheit für die Gegenwart verständlich zu machen, herrscht keine Einigkeit darüber, welche Arten von Information oder Bericht hierfür am besten geeignet sind.
23
Derartige Meinungsverschiedenheiten lassen sich schön durch Herbert Butterfields Polemik gegen die sogenannte Whig-Interpretation der Geschichte illustrieren.
24 Butterfield beschreibt diese Position wie folgt: »Der Whig-Historiker kann sagen, daß Ereignisse im richtigen Verhältnis gesehen werden können, wenn eine gewisse Zeit verstrichen ist. Er kann
Weitere Kostenlose Bücher