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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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verstanden werden muß
13  – so einleuchtend erscheint, daß wir jede abstrakte Theorie literarischer Interpretation, die diese Lesart ausschließt, ablehnen.
    Ein wichtiger Vorteil meiner skizzenhaften Darstellung ist, daß sie unseren Blick auf den entscheidenden Zusammenhang zwischen den Werten und den Standards der Interpretation lenkt. Im Rahmen der Werttheorie wird die Grenze zwischen zwei Fragen aufgeweicht, die wir normalerweise als streng voneinander getrennt ansehen: Wir fragen zum einen nach der Bedeutung des jeweiligen Gegenstands – also zum Beispiel eines Gesetzes, Gedichts oder Gemäldes – und zum anderen danach, welchen Wert er für uns oder an sich besitzt. Der Werttheorie zufolge müssen wir bei der Beantwortung der ersten Frage unsere Antwort auf die zweite berücksichtigen. Wenn sich etwas an seinem Verständnis der diversen involvierten Werte ändert, werden sich auch die konkreten interpretativen Ansichten des jeweiligen Interpreten in unterschiedlichen Genres ändern. Die Beobachtung einer engen Verbindung zwischen theoretischen Antworten auf die Frage, was Literatur eigentlich ist und welchen Wert sie hat, und Ansichten darüber, wie man literarische Werke lesen sollte, wird von den Autoren einer kürzlich erschienenen und sehr umfassenden literaturwissenschaftlichen Anthologie als Quintessenz der 2500 Seiten Material präsentiert, das sie zusammengetragen haben:
     
    Literaturtheorien und Lesetheorien hängen oft eng zusammen. Lassen Sie uns das kurz mit vier Beispielen illustrieren: Erstens scheint eine formalistische Vorstellung von Literatur als mit großer Kunstfertigkeit hergestelltes Artefakt mit der Idee einherzugehen, daß richtiges Lesen in einer behutsamen Erläuterung und Evaluation eines dichten poetischen Schreibstils besteht. Zweitens neigen Literaturkritiker, die davon ausgehen, daß sich in der Poesie ein begabter Visionär auf hochgeistige Weise ausdrückt, eher zu einem biographischen Ansatz, bei dem die innere Entwicklung des Dichters im Mittelpunkt steht. Drittens gehört zur Idee dichter historisch-symbolischer Werke eine Theo
233 rie der Interpretation als Exegese oder Entschlüsselung. Wer Literatur viertens als gesellschaftlich geprägten Text oder Diskurs versteht, wird wohl eine Form von Kulturkritik fordern. Auch wenn wir also zwischen Theorien der Literatur und Theorien der Interpretation unterscheiden können, gehen sie oft Hand in Hand.
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    Diese Beobachtung wird von der Werttheorie der Interpretation auf alle Genres der Interpretation ausgeweitet. Zudem sollte auf dieser Basis genau differenziert werden, welche Art von Wert ein bestimmtes Genre oder ein Interpretationsgegenstand zum Ausdruck bringen könnte. Das ermöglicht uns zum Beispiel, kollaborative, erklärende und begriffliche Interpretationen sowie ihre jeweiligen Anlässe zu unterscheiden. Kollaborative Interpretation setzt einen Autor oder Schöpfer des Gegenstands voraus, von dem etwas begonnen wurde, das der Interpret nun vorantreiben will. Interpretation in Gesprächen ist fast immer kollaborativ ebenso wie ein großer Teil der Literatur- und Kunstkritik. Als Leser oder Zuhörer meint man oft, an einem Unternehmen beteiligt zu sein, das von dem jeweiligen Sprecher oder Autor begonnen wurde, nämlich der erfolgreichen Kommunikation dessen, was gemeint war. Jean-Paul Sartre zufolge verhält es sich so, daß »das Schaffen seine Erfüllung nur im Lesen finden kann, da der Künstler die Sorge, das, was er begonnen hat, zu vollenden, einem anderen überlassen muß«.
15 Auch das Recht ist kollaborativ, weil Richter davon ausgehen, daß sie dasselbe Ziel wie die Gesetzgeber verfolgen, nämlich Gerechtigkeit. Selbst wenn sie glauben, nur eine sehr untergeordnete Rolle zu spielen, halten sie diese Unterordnung selbst wiederum aufgrund des gemeinsamen Ziels für gerechtfertigt.
    Bei einer erklärenden Interpretation wird hingegen nicht vorausgesetzt, daß der Interpret mit denjenigen Menschen zusammenarbeitet, die den zu interpretierenden Gegenstand oder das Ereignis hervorgebracht haben, sondern daß Gegenstand oder Ereignis eine besondere Bedeutung für das Publikum haben, zu dem er spricht. Historische, soziologische und psychodyna
234 mische Interpretationen fallen normalerweise in diese Rubrik. Wenn ein Geschichtswissenschaftler sich mit der Bedeutung der Französischen Revolution oder des Holocaust befaßt, heißt das nicht, daß er auf irgendeine Weise mit den Jakobinern oder den

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