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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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politischen Wunsch, ihren Wählern, finanzstarken Unterstützern und Parteigrößen entgegenzukommen, oder anderen persönlichen politischen Erwägungen bestimmt, wie von den Prinzipien oder politischen Zielsetzungen, die Juristen später den fraglichen Gesetzen zuschreiben.
    In der Tradition der Kunst- und Literaturkritik gab es Phasen, in denen die sogenannte Autorintention sehr hochgehalten wurde, und andere, in denen das Gegenteil der Fall war. In Schriften über Sinn und Wert der Kunst, die uns aus der Antike überliefert sind, spielt sie kaum eine Rolle. Platon und Aristoteles gingen davon aus, daß das Ziel eines Kunstwerks stets die Imitation ist und wir es daher verstehen können, indem wir identifizieren, was es nachahmen soll. (Noch zwei Jahrtausende später erklärt Hamlet in Shakespeares gleichnamigem Theaterstück, Kunst sei der Spiegel der Natur.) Im frühen 19. und 20. Jahrhundert hingegen wurde mit Vorliebe auf die Absicht des Künstlers verwiesen, vor allem von jenen Kritikern, die sich selbst als »Romantiker« stilisierten. Seitdem ist dieses Vorgehen aber kontinuierlichen Angriffen ausgesetzt gewesen und wird heute im allgemeinen auf einen Denkfehler zurückgeführt, der von außerordentlich einflußreichen Literaturtheoretikern als »intentionaler« Fehlschluß bezeichnet wird.
 8 Außerdem wird seit einer gewissen Zeit davon ausgegangen, daß der Schriftsteller, nachdem er sein Werk der Öffentlichkeit übergeben hat, nicht mehr darüber zu sagen hat, wie es zu verstehen ist, als jeder andere auch. Er ist also, wie Paul Ricœur es sehr schön formulierte,
224 nur noch der »erste Leser«.
 9 Eine gelungene Theorie der Interpretation muß zum einen erklären können, warum dieser auf mentale Zustände verweisende Ansatz so attraktiv ist, und zum anderen, warum er letztlich scheitert; warum wir in manchen Genres Interpretationen ganz selbstverständlich auf diese Weise verstehen, warum das in anderen immer wieder versucht wird, aber kontrovers bleibt, und warum es in wieder anderen vollkommen unangemessen erscheint. Außerdem muß deutlich werden, warum auch Interpretationen in Genres, in denen die Theorie mentaler Zustände keine Anwendung findet, ganz selbstverständlich so formuliert werden, als ginge es darum, was der fragliche Gegenstand bedeutet.
    Die Werttheorie
    Eine gelungene Theorie der Interpretation muß also ein fragiles Gleichgewicht halten. Zum einen muß sie erklären können, was es bedeutet und wie es überhaupt möglich ist, daß Interpretationen wahr sind, und zum anderen, warum diese Wahrheit oft nicht ausgedrückt werden kann und wie es zu jenen uns allen bekannten scheinbar unlösbaren Kontroversen hierüber kommt. Da Skeptizismus hier ebensowenig weiterhelfen kann wie theoretische Einfachheit, möchte ich zunächst auf recht skizzenhafte und vielleicht schwerverständliche Weise eine eigene Theorie der Interpretation vorschlagen, die ich dann in diesem Kapitel verteidigen werde. Interpretation ist ein soziales Phänomen, und wir können nur deswegen verschiedenste Gegenstände so interpretieren, wie wir das tun, weil es Interpretationspraktiken oder -traditionen gibt, die das Interpretieren nach den bereits erwähnten Genres sortieren. Über die Bedeutung eines Gesetzes, eines Gedichts oder einer Epoche kann man also nur sprechen, weil andere das ebenfalls tun. Sie verstehen, was gemeint ist, wenn ich eine Aussage darüber mache, ob Quotenregelungen mit dem gleichen Rechtsschutz
225 vereinbar sind oder nicht oder ob Lady Macbeth bereits zum zweiten Mal verheiratet ist.
    Wir haben es mit sozialen Praktiken der Wahrheitsfindung zu tun. Wenn ich für eine bestimmte Interpretation eines Gegenstands plädiere, mache ich eine Aussage darüber, was meines Erachtens wahr ist, und genauso wird meine Äußerung auch verstanden. Wir behandeln Interpretationen nicht als müßigen Zeitvertreib, sondern gehen davon aus, daß wir uns einen bestimmten Wert zu fördern bemühen, wenn wir Meinungen über die Reichweite des gleichen Rechtsschutzes oder Lady Macbeths Sexualleben bilden, vertreten oder verteidigen. Wer etwas interpretiert, hat unseres Erachtens eine gewisse Verantwortung, jenen Wert zu fördern. Aus diesem Grund interpretieren wir mit dem jeweiligen Gegenstand oder Ereignis zugleich auch immer die Interpretationspraxis des Genres, dem wir uns zugehörig fühlen, indem wir ihm einen bestimmten Zweck zuschreiben, und zwar jenen Wert, den es für uns hat und auch haben

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