Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Leben zu erhalten. Es sei durchaus möglich, das Leben zu lieben und es dennoch aus dem richtigen Grund zu bewahren – weil man nämlich die Pflicht habe, dies zu tun. Der Wunsch, weiterzuleben, untergräbt dabei nicht den sittlichen Wert – vorausgesetzt, man respektiert auch die Pflicht, das eigene Leben zu erhalten, und tut es im Bewusstsein dieser Begründung.
Der moralische Menschenfeind
Der vielleicht schwierigste Testfall für Kants Ansicht betrifft die Pflicht, anderen zu helfen. Manche Menschen sind altruistisch. Sie empfinden Mitleid für andere, und es macht ihnen Freude, ihnen zu helfen. Doch der guten Tat aus Mitleid, »so pflichtmäßig, so liebenswürdig sie auch ist«, fehlt es an sittlichem Wert. Das mag der Intuition zuwiderlaufen. Ist es nicht gut, zu denen zu gehören, denen es Freude bereitet, anderen zu helfen? Kant würde das bejahen. Er ist gewiss nicht der Ansicht, es sei falsch, aus Mitgefühl zu handeln. Aber er unterscheidet zwischen diesem Beweggrund, anderen zu helfen – etwas Gutes zu tun macht mir Freude –, und dem Motiv der Pflicht. Und er bleibt dabei, dass nur das Motiv der Pflicht einer Handlung sittlichen Wert verleiht. Das Mitleid des Menschenfreundes verdient »Lob und Aufmunterung, aber nicht Hochschätzung«. 10
Doch was ist dann erforderlich, damit eine gute Tat sittlichen Wert bekommt? Kant bietet ein Szenario an: Stellen wir uns vor, unser Menschenfreund erlebt ein Unglück, das seine Menschenliebe erlöschen lässt. Er wird zum Misanthropen, dem es gänzlich an Sympathie und Mitgefühl fehlt. Doch die kaltherzige Seele reißt sich aus dieser Gleichgültigkeit – und kommt ihren Mitmenschen zu Hilfe. Obwohl ihm jede Neigung zu helfen fehlt, tut er es »lediglich aus Pflicht«. Nun erst hat sein Handeln echten moralischen Wert. 11
Dieses Urteil mag uns in mancherlei Hinsicht seltsam vorkommen. Will Kant Menschenfeinde zu moralischen Beispielen aufwerten? Wohl kaum. Empfindet man Vergnügen daran, das Richtige zu tun, untergräbt das zwar nicht zwangsläufig den moralischen Wert der Handlung; es kommt aber darauf an, so Kant, dass die gute Tat vollbracht wird, weil sie an sich richtig ist – ob uns das nun Freude bereitet oder nicht.
Der Held des Buchstabierwettbewerbs
Nehmen wir einen Vorfall, der sich vor einigen Jahren beim nationalen Buchstabierwettbewerb in Washington, D. C. , ereignet hat. Ein Dreizehnjähriger wurde aufgefordert, »echolalia« zu buchstabieren. Das Wort bezeichnet die Neigung, alles zu wiederholen, was man hört. Obwohl der Junge das Wort falsch buchstabierte, glaubten die Juroren, es richtig zu hören, und ließen ihn in die nächste Runde einziehen. Als der Junge erfuhr, dass er das Wort falsch buchstabiert hatte, ging er zu den Juroren und sagte es ihnen. Er musste letztlich ausscheiden, aber am nächsten Tag wurde der junge Mann in den Schlagzeilen zum »Helden des Buchstabierwettbewerbs« erklärt, und sein Foto erschien in der New York Times . »Die Juroren meinten, ich hätte große Aufrichtigkeit gezeigt«, erzählte der Junge den Reportern. Er fügte hinzu, er habe es zum Teil deshalb getan, weil er sich »nicht wie ein Ekel vorkommen« wollte. 12
Als ich dieses Zitat des Buchstabierhelden las, fragte ich mich, was Kant wohl gedacht hätte. Sich nicht wie ein Ekel vorkommen zu wollen ist natürlich eine Neigung. Dies scheint den moralischen Wert seiner Handlung zu untergraben. Doch das wäre ein zu hartes Urteil. Es würde bedeuten, dass nur unempfindliche Menschen moralisch wertvoll handeln könnten. Ich glaube nicht, dass es das war, was Kant gemeint hat.
Wenn der Junge nur deshalb die Wahrheit gesagt hat, weil er sich nicht schuldig fühlen oder nicht in Verruf geraten wollte, falls sein Fehler entdeckt würde, dann wäre es moralisch ohne Wert gewesen, dass er die Wahrheit gesagt hat. Wenn er dagegen die Wahrheit gesagt hat, weil ihm klar war, dass dies das Richtige war, hat sein Verhalten moralischen Wert – ungeachtet der Freude oder Befriedigung, die vielleicht damit einherging. Solange jemand das Richtige aus dem richtigen Grund tut, kann man sich deswegen gut fühlen, ohne dass der moralische Wert ausgehöhlt würde.
Das gilt auch für Kants Menschenfreund. Wenn er anderen einfach deswegen zu Hilfe kommt, weil es ihm Freude macht, fehlt seinem Handeln moralischer Wert. Wenn er es dagegen als seine Pflicht ansieht, den Mitmenschen zu helfen, und aufgrund dieser Pflicht handelt, dann wertet die Freude, die er dabei
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