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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael J. Sandel
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können, was wir wollen. Dem widerspricht Kant. Seine Vorstellung von Freiheit ist strenger und anspruchsvoller.
    Kants Überlegung verläuft so: Wenn wir wie die Tiere nach Lust streben und Unlust vermeiden, handeln wir nicht wirklich frei, sondern als Sklaven unserer Begierden und Wünsche. Warum? Immer, wenn wir versuchen, unsere Begierden zu befriedigen, geschieht alles, was wir tun, um eines außerhalb von uns gelegenen Zieles willen. Ich gehe hierhin, um meinen Hunger zu stillen, und dorthin, um meinen Durst zu löschen.
    Angenommen, ich versuche zu entscheiden, welches Eis ich bestellen möchte: Sollte ich mich für Schokolade, Vanille oder Espresso Toffee Crunch entscheiden? Auch wenn ich vielleicht denke, meine Wahlfreiheit auszuüben, versuche ich in Wahrheit lediglich herauszufinden, welcher Geschmack meinen Vorlieben entgegenkommt – Vorlieben, die ich überhaupt nicht gewählt habe. Für Kant ist entscheidend, dass wir dabei nicht frei handeln, sondern gemäß einer von außen an uns herangetragenen Bestimmung. Denn schließlich habe ich mir kaum ausgesucht, dass ich Espresso Toffee Crunch Vanille vorziehe. Ich tue es einfach.
    Vor einigen Jahren lautete ein Werbespruch von Sprite: »Hör auf deinen Durst!« Die Werbung enthielt (sicher unbeabsichtigt) eine Kant’sche Einsicht. Wenn ich nach einer Dose Sprite (oder Pepsi oder Coke) greife, handle ich aus Gehorsam, nicht aus Freiheit. Ich reagiere auf einen Wunsch, den ich nicht frei gewählt habe. Ich gehorche meinem Durst.
    Die Leute streiten sich oft über die Rolle, die Natur bzw. Kultur – »nature and nurture« – bei der Ausformung unseres Verhaltens spielen. Ist der Wunsch nach Sprite (oder anderen Zuckerlimonaden) in den Genen festgeschrieben oder durch Werbung induziert? Für Kant verfehlt diese Debatte jedoch den Kern der Sache. Denn egal, ob mein Verhalten biologisch determiniert oder kulturell konditioniert ist, wahrhaft frei ist es nicht. Freies Handeln heißt laut Kant, selbstbestimmt zu handeln. Und selbstbestimmt handeln heißt: Handeln gemäß einem Gesetz, das ich mir selbst gegeben habe – und nicht nach dem Diktat der Natur oder einer gesellschaftlichen Übereinkunft.
    Was Kant mit selbstbestimmtem Handeln meint, wird verständlich, indem man versucht, sich das Gegenteil von Selbstbestimmung oder Autonomie zu vergegenwärtigen. Kant hat dafür das Wort Heteronomie geprägt. Wenn ich fremdbestimmt handle, handle ich gemäß Bestimmungen, die außerhalb meiner selbst liegen. Ein Beispiel: Wenn ich eine Billardkugel fallen lasse, fällt sie zu Boden. Wenn sie fällt, handelt die Billardkugel nicht frei; ihre Bewegung wird durch Naturgesetze gesteuert – in diesem Fall durch das Gravitationsgesetz.
    Nehmen wir an, ich falle vom Empire State Building (oder werde hinabgestoßen). Keiner würde sagen, dass ich frei handle, während ich in Richtung Erde stürze; meine Bewegung wird wie die der Billardkugel vom Gravitationsgesetz bestimmt.
    Nehmen wir nun an, ich lande auf einer anderen Person und töte sie. Für den unglücklichen Todesfall bin ich moralisch nicht verantwortlich – ebenso wenig wie die Billardkugel moralisch verantwortlich ist, wenn sie aus großer Höhe herabfällt und jemanden am Kopf trifft. Weder ich noch die Billardkugel handeln frei. In beiden Fällen herrscht das Gravitationsgesetz. Da keine Selbstbestimmung vorliegt, kann es keine moralische Verantwortung geben.
    Somit finden wir hier die Verbindung zwischen Freiheit als Selbstbestimmung und Kants Vorstellung der Sittlichkeit. Frei handeln heißt nicht, die besten Mittel zu einem gegebenen Zweck zu wählen; es heißt, den Zweck als solchen zu wählen, um seiner selbst willen – eine Entscheidung, die Menschen treffen können, nicht aber Billardkugeln (oder auch die meisten Tiere).

Personen und Sachen
    Es ist drei Uhr früh, und der Zimmergenosse fragt, warum man so spät noch auf ist und moralische Zwickmühlen wälzt – es geht um Loks mit versagenden Bremsen.
    »Ich will eine gute Arbeit im Hauptseminar Ethik schreiben«, lautet die Antwort.
    »Warum das?«, fragt der Zimmergenosse.
    »Um eine gute Note zu bekommen.«
    »Aber was willst du mit einer guten Note?«
    »Ich will einen guten Job im Investmentbanking.«
    »Warum gerade da?«
    »Eines Tages will ich Hedgefonds-Manager werden.«
    »Und warum Hedgefonds-Manager?«
    »Um massenhaft Geld zu machen.«
    »Warum willst du massenhaft Geld machen?«
    »Damit ich möglichst oft Hummer essen kann – ich

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