Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
von Vernunft ist besonders anspruchsvoll – so wie seine Entwürfe von Freiheit und Moral. Für die empiristischen Philosophen einschließlich der Utilitaristen ist Vernunft nicht mehr als ein Werkzeug. Sie ermöglicht es uns, Mittel zur Verfolgung bestimmter Zwecke ausfindig zu machen – Zwecke, die von der Vernunft selbst nicht geliefert werden. Thomas Hobbes bezeichnete die Vernunft als »Pfadfinder der Begierden«. David Hume nannte die Vernunft einen »Sklaven der Leidenschaften«.
Auch den Utilitaristen zufolge besteht die Aufgabe der Vernunft nicht darin, die Zwecke zu bestimmen, deren Verfolgung sich lohnt. Sie hat herauszufinden, wie die Wünsche zu erfüllen sind, die wir zufällig haben, um so den Nutzen zu maximieren.
Kant wertet die Vernunft demgegenüber massiv auf. Für ihn ist sie nicht nur der Sklave der Leidenschaften. Wäre sie nur das, sagt Kant, dann wären wir mit dem Instinkt besser dran. 14 Kants Vorstellung von Vernunft – der praktischen Vernunft, die mit Moral zu tun hat – beschreibt keine instrumentelle Vernunft, sondern »die reine a priori gesetzgebende Vernunft, die auf keinen empirischen Zweck (…) Rücksicht nimmt«. 15
Kategorische versus
hypothetische Imperative
Wie aber kann die Vernunft das erreichen? Kant unterscheidet zwei Wege, auf denen die Vernunft dem Willen befehlen kann – zwei verschiedene Typen von Imperativen. Einer davon, vielleicht der vertrauteste, ist ein hypothetischer Imperativ. Hypothetische Imperative bedienen sich der instrumentellen Vernunft: Wenn du X willst, dann mache Y. Wenn du einen guten Ruf als Geschäftsmann haben willst, dann gehe ehrlich mit deinen Kunden um.
Den hypothetischen Imperativen, die immer nur bedingt, von Fall zu Fall, gültig sind, stellt Kant eine Art von unbedingtem Imperativ entgegen – den kategorischen Imperativ. »Wenn nun die Handlung bloß (…) als Mittel gut sein würde«, schreibt Kant, »so ist der Imperativ hypothetisch ; wird sie als an sich gut vorgestellt, mithin als notwendig in einem an sich der Vernunft gemäßen Willen, als Prinzip desselben, so ist er kategorisch.« 16
Der Ausdruck »kategorisch « mag sich nach Philosophenjargon anhören, ist aber von unserem üblichen Gebrauch des Begriffs nicht allzu weit entfernt. Mit »kategorisch« meint Kant »unbedingt«. Wenn beispielsweise ein Politiker einen angeblichen Skandal kategorisch bestreitet, ist die Verneinung nicht bloß nachdrücklich; sie ist ohne einschränkende Bedingung gemeint – ohne Schlupfloch oder Ausnahme. Ähnlich sind eine kategorische Pflicht oder ein kategorisches Recht ungeachtet aller Begleitumstände gültig.
Für Kant befiehlt ein kategorischer Imperativ in – nun ja – kategorischer Weise; er bezieht sich nicht auf irgendeinen anderen Zweck oder ist davon abhängig. »Er betrifft nicht die Materie der Handlung und das, was aus ihr erfolgen soll, sondern die Form und das Prinzip, woraus sie selbst folgt, und das Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesinnung, der Erfolg mag sein, welcher er wolle.« 17 Nur ein kategorischer Imperativ, meint Kant, kommt als Grundlage der Moral in Frage.
Nun kommt die Verbindung zwischen den drei parallelen Gegensätzen in den Blick. Um selbstbestimmt und frei zu sein, ist es notwendig, dass ich nicht aufgrund eines hypothetischen, sondern aufgrund eines kategorischen Imperativs handle.
Das lässt immer noch eine große Frage offen: Wie könnte ein solcher kategorischer Imperativ denn überhaupt lauten? Was befiehlt er uns? Kant sagt, wir können dies beantworten, indem wir uns ein »praktisches Gesetz« vorstellen, das uns als vernünftige Wesen – ungeachtet unserer speziellen Absichten und Zwecke – bindet. 18 Worum handelt es sich?
Kategorischer Imperativ I:
Eine Maxime verallgemeinern
Die erste Version bezeichnet Kant als Formel des allgemeinen Gesetzes: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« 19 Mit »Maxime« meint Kant eine Regel, die meinem Handeln zugrunde liegt. Wir sollten also nur aufgrund von Prinzipien handeln, die wir ohne Widersprüche verallgemeinern können.
Um zu sehen, wie Kant sich das vorstellt, wollen wir eine konkrete moralische Frage betrachten: Ist es jemals richtig, ein Versprechen zu geben, das man nicht einhalten kann?
Angenommen, ich benötige dringend Geld und bitte jemanden um ein Darlehen. Ich weiß sehr wohl, dass ich nicht imstande sein werde, es in nächster Zeit
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