Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
empfindet, seine Handlung nicht ab.
Natürlich kommt es in der Praxis häufig vor, dass sich Pflicht und Neigung überlagern. Oft ist es schon schwierig, die eigenen Empfindungen klar auseinanderzuhalten, ganz zu schweigen davon, die Motive anderer Menschen genau zu erkennen. Kant bestreitet das nicht. Ebenso wenig glaubt er, nur ein hartherziger Misanthrop könne moralisch wertvolle Handlungen ausführen. Sein Beispiel mit dem Menschenfeind sollte lediglich das Motiv der Pflicht – unvermischt mit Sympathie oder Mitleid – herausstellen, um zu verdeutlichen, dass es nicht die Folgen einer Tat sind, die unseren guten Taten moralischen Wert verleihen, sondern das Grundprinzip, an dem wir unser Handeln ausrichten.
Was ist der oberste Grundsatz
der Sittlichkeit?
Wenn Sittlichkeit bedeutet, aus Pflicht zu handeln, bleibt zu zeigen, was die Pflicht erfordert. Und dafür, so Kant, muss man wissen, was der oberste Grundsatz der Sittlichkeit ist. In seiner Grundlegung versucht Kant, genau diese Frage zu beantworten.
Wir können uns Kants Antwort nähern, wenn wir uns ansehen, wie er drei große Ideen verknüpft: Moral bzw. Sittlichkeit, Freiheit und Vernunft. Er erklärt diese Vorstellungen anhand einer Reihe von Gegensätzen oder Dualismen. Das schließt einiges an spezieller Terminologie ein, aber wer sich die Parallelen zwischen diesen gegensätzlichen Begriffen merkt, ist schon dabei, Kants Moralphilosophie zu verstehen. Hier sind die Gegensätze, die man im Kopf behalten sollte:
Gegensatz 1 (Sittlichkeit): Pflicht vs. Neigung
Gegensatz 2 (Freiheit): Selbst- vs. Fremdbestimmung
Gegensatz 3 (Vernunft): kategorische vs. hypothetische Imperative
Das erste Gegensatzpaar zwischen Pflicht und Neigung haben wir schon erkundet. Nur der Beweggrund der Pflicht kann einer Handlung moralischen Wert verleihen. Nun möchte ich versuchen, die beiden anderen Punkte zu erläutern.
Der zweite Gegensatz bezieht sich auf den menschlichen Willen – ist er autonom oder heteronom? Gemäß Kant bin ich nur dann frei, wenn mein Wille selbstbestimmt ist – regiert durch ein Gesetz, das ich mir selbst gebe. Noch einmal: Oft glauben wir, Freiheit bedeute, dass wir tun können, was wir wollen, und dass wir unsere Wünsche ungehindert verfolgen können. Doch Kant stellt diese Anschauung der Freiheit in Frage: Wenn man diese Wünsche anfangs gar nicht frei gewählt hat, wie kann man dann glauben, man sei frei, wenn man ihnen nachgeht?
Wenn mein Wille heteronom oder fremdbestimmt ist, wird er von etwas gesteuert, das außerhalb meiner Selbst liegt. Das aber wirft eine schwierige Frage auf: Wenn Freiheit mehr bedeutet, als meinen Wünschen und Neigungen zu folgen, wie ist sie dann überhaupt möglich? Ist nicht alles, was ich mache, durch Begehren oder Neigungen begründet, die auf äußere Einflüsse zurückgehen?
Die Antwort liegt durchaus nicht auf der Hand. Kant merkt an, dass jedes Ding in der Natur notwendigerweise bestimmten Gesetzen gehorcht – etwa den Gesetzen der Physik und dem Gesetz von Ursache und Wirkung. 13 Das schließt den Menschen ein. Schließlich sind wir Wesen der Natur. Menschen sind von den Naturgesetzen nicht ausgenommen.
Wenn wir aber zur Freiheit fähig sind, müssen wir imstande sein, gemäß einer anderen Art von Gesetz zu handeln, einem Gesetz, das sich von den Gesetzen der Physik unterscheidet. Kant meint, jede Handlung sei durch Gesetze der einen oder der anderen Art gelenkt. Und wenn unsere Handlungen allein von den Gesetzen der Physik gesteuert würden, dann würden wir uns nicht von einer Billardkugel unterscheiden. Wenn wir aber zur Freiheit fähig sind, müssen wir imstande sein, nicht nach einem uns gegebenen oder auferlegten Gesetz zu handeln, sondern gemäß einem Gesetz, das wir uns selbst geben. Doch woher könnte ein solches Gesetz kommen?
Kants Antwort: aus der Vernunft. Wir sind nicht bloß fühlende Wesen, beherrscht von der Lust und der Unlust unserer Sinne; wir sind auch rationale, zur Vernunft fähige Wesen. Wenn mein Wille von der Vernunft bestimmt wird, dann erhält er die Macht, unabhängig vom Diktat der Natur oder der Neigung zu entscheiden. (Anzumerken ist, dass Kant nicht behauptet, mein Wille sei immer von der Vernunft gelenkt; er sagt nur, dass mein Wille, sofern ich fähig bin, frei und gemäß einem Gesetz zu handeln, von der Vernunft gesteuert wird.)
Natürlich ist Kant nicht der erste Philosoph, der vorbringt, dass Menschen zur Vernunft fähig seien. Doch seine Vorstellung
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