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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael J. Sandel
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aber andere herausfänden, dass er ein Kind auf diese Weise übervorteilt hat, und das weitererzählten, würde, wie der Krämer erkennt, sein Geschäft leiden. Deshalb beschließt er, dem Kind nicht zu viel abzunehmen. Er berechnet ihm den üblichen Preis. Der Krämer tut also das Richtige, aber aus dem falschen Grund. Er geht allein deswegen korrekt mit dem Kind um, weil er seinen Ruf schützen will. Der Krämer handelt nur aus Eigeninteresse ehrlich – seinem Handeln fehlt der sittliche Wert. 7
    Eine moderne Parallele zu Kants vorsichtigem Krämer findet man in der Werbekampagne des Better Business Bureau in New York (einer Verbraucherschutzorganisation, die Firmen nach deren Geschäftsgepflogenheiten bewertet). Um neue Mitglieder anzuwerben, schaltet das BBB manchmal eine ganzseitige Anzeige in der New York Times – Überschrift: »Ehrlichkeit ist die beste Politik. Sie bringt auch den höchsten Gewinn.« Der Anzeigentext lässt keinen Zweifel aufkommen, an welches Motiv hier appelliert wird.
Ehrlichkeit. Sie ist so wichtig wie jeder andere Aktivposten. Denn ein Unternehmen, das ehrlich, offen und korrekt handelt, wird zwangsläufig erfolgreich sein. Genau deswegen unterstützen wir das Better Business Bureau. Machen Sie mit. Profitieren Sie gemeinsam mit uns.
    Kant würde das Better Business Bureau nicht verurteilen; es ist zu loben, wenn man ehrliches Geschäftsgebaren fördert. Es gibt jedoch einen wichtigen moralischen Unterschied zwischen Ehrlichkeit um ihrer selbst willen und Ehrlichkeit um der Bilanz willen. Ersteres ist eine auf Grundsätze gestützte Haltung, Letzteres lediglich vorsichtig. Kant meint, nur die auf Grundsätzen beruhende Haltung sei pflichtgemäß und verleihe einer Handlung sittlichen Wert.
    Oder sehen wir uns folgendes Beispiel an. Vor einigen Jahren versuchte die Universität Maryland, ein weitverbreitetes Problem anzugehen: das Schummeln während der Klausuren. Die Universitätsleitung forderte die Studenten auf, eine Selbstverpflichtung zu unterschreiben, während der Klausuren nicht zu mogeln. Als Anreiz überreichte man Studenten, die diese Verpflichtung akzeptierten, eine Rabattkarte, die in örtlichen Läden Preisnachlässe von 10 bis 25 Prozent bot. 8 Kein Mensch weiß, wie viele Studenten wegen eines Rabatts beim örtlichen Pizzabäcker versprachen, nicht zu mogeln. Die meisten von uns würden jedoch zustimmen, dass es der gekauften Ehrlichkeit an moralischem Wert fehlt. Egal, ob die Preisnachlässe die Fälle von Mogelei verringert haben oder nicht – die moralische Frage ist, ob Ehrlichkeit, die durch den Wunsch nach einem Preisnachlass oder einer finanziellen Belohnung motiviert ist, sittlichen Wert besitzt. Kant würde das verneinen.
    Diese Fälle zeigen, dass Kants Behauptung, nur der Beweggrund der Pflicht – man tut etwas, weil es richtig ist, nicht weil es nützlich oder üblich ist – verleihe einer Handlung sittlichen Wert, nicht unplausibel ist. Zwei weitere Beispiele zeigen jedoch, dass es so einfach nun auch wieder nicht ist.
    Am Leben bleiben
    Das erste Beispiel betrifft die Pflicht (so sieht es Kant), sein eigenes Leben zu erhalten. Da die meisten Menschen ohnehin eher geneigt sind, weiterzuleben, tritt diese Pflicht nur selten in Erscheinung. Deshalb fehlt es den meisten Vorsichtsmaßnahmen, mit denen wir unser Leben bewahren, an moralischem Gehalt. Wer den Sicherheitsgurt anlegt oder den Cholesterinwert unter Kontrolle hält, handelt vorsichtig, nicht moralisch.
    Kant räumt ein, dass oft schwierig zu erkennen sei, was Menschen zu einem bestimmten Verhalten bewege. Und er erkennt an, dass die Motive Pflicht und Neigung gleichzeitig vorhanden sein können. Ihm kommt es darauf an, dass nur der Beweggrund der Pflicht – wir tun etwas, weil es richtig ist, nicht, weil es nützlich oder erfreulich oder bequem ist – einer Handlung sittlichen Wert verleiht. Diesen Punkt veranschaulicht er mit dem Beispiel des Suizids.
    Die meisten Menschen leben immerfort weiter, weil sie das Leben lieben, und nicht, weil sie die Pflicht dazu haben. Kant stellt einen Fall vor, in dem das Motiv der Pflicht in den Blick gerät. Er stellt sich einen hoffnungslosen, trübseligen Menschen vor, der so verzweifelt ist, dass ihn der Lebensmut verlässt. Wenn so ein Mensch den Willen zum Weiterleben nicht aus der Neigung, sondern aus der Pflicht ableitet, dann hat sein Handeln sittlichen Wert. 9
    Kant behauptet nicht, nur verzweifelte Menschen könnten die Pflicht erfüllen, sich am

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