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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael J. Sandel
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zurückzuzahlen. Ist es moralisch zulässig, das Darlehen zu erhalten, indem ich fälschlicherweise zusichere, das Geld prompt zurückzuzahlen, obwohl ich weiß, dass ich dieses Versprechen nicht halten kann? Ist ein falsches Versprechen mit dem kategorischen Imperativ vereinbar? Kant sagt nein, offensichtlich nicht. Dass die falsche Zusage dem kategorischen Imperativ widerspricht, erkenne ich, wenn ich versuche, sie zur Maxime zu verallgemeinern. 20 Sie würde in diesem Fall etwa so lauten: »Wann immer jemand dringend Geld benötigt, sollte er um ein Darlehen bitten und dessen Rückzahlung versprechen, selbst wenn er weiß, dass er dazu nicht in der Lage sein wird.«
    Würde man versuchen, solch eine Maxime auf diese Weise weiter zu verallgemeinern und zugleich danach zu handeln, würde man nach Kant auf einen Widerspruch stoßen: Wenn jeder, der Geld benötigt, falsche Versprechungen machte, würde niemand solchen Versprechungen glauben. Tatsächlich gäbe es so etwas wie Versprechungen nicht mehr, weil durch die Verallgemeinerung falscher Zusagen das System gegenseitiger Absprachen zusammenbrechen würde. Dann aber würde man vergeblich hoffen, Geld aufgrund von Versprechungen zu erhalten. Das zeigt, dass es moralisch verkehrt ist, falsche Versprechungen zu machen – es steht im Widerspruch zum kategorischen Imperativ.
    Manche finden diese Version von Kants kategorischem Imperativ nicht überzeugend. Die Formel vom allgemeinen Gesetz ähnelt ein wenig der moralischen Binsenweisheit, die Erwachsene verwenden, um Kinder zur Ordnung zu rufen, wenn sie sich vordrängeln oder anderen ins Wort fallen: »Was wäre, wenn das alle so machten?« Würden alle lügen, könnte sich keiner mehr auf das Wort des anderen verlassen, und damit wäre niemandem gedient. Falls Kant das zum Ausdruck bringen wollte, so wäre dies allerdings ein Argument, das die Folgen berücksichtigt – das falsche Versprechen würde also nicht grundsätzlich verworfen, sondern wegen seiner vielleicht schädlichen Auswirkungen oder Konsequenzen.
    Kein Geringerer als John Stuart Mill äußerte diese Kritik an Kant. Doch Mill hat den Kern von Kants Gedankengang missverstanden. Wenn ich prüfe, ob ich die Maxime meiner Handlung verallgemeinern und weiterhin danach handeln kann, ist das für Kant kein Verfahren, über mögliche Folgen zu spekulieren. Es ist ein Test, der mir sagt, ob meine Maxime mit dem kategorischen Imperativ in Einklang ist. Ein falsches Versprechen ist nicht deshalb verkehrt, weil es ins Große übertragen das soziale Vertrauen unterhöhlen würde (auch wenn das durchaus geschehen könnte). Es ist verkehrt, weil ich, wenn ich es abgebe, meine persönlichen Bedürfnisse und Wünsche (in diesem Fall Geld) denen aller anderen überordne.
    Der Test per Verallgemeinerung verweist auf einen starken moralischen Anspruch: Damit lässt sich prüfen, ob die von mir geplante Handlung meine Interessen über die aller anderen stellt.
    Kategorischer Imperativ II:
Personen als Zwecke behandeln
    In Kants zweiter Formulierung wird die moralische Stärke des kategorischen Imperativs deutlicher – es ist die Formel von der Menschheit als Zweck, nicht als Mittel. Kant führt die zweite Version des kategorischen Imperativs folgendermaßen ein: Wir können das moralische Gesetz nicht auf irgendwelche Einzelinteressen, Zwecke oder Ziele gründen, weil es dann nur auf die Person bezogen wäre, um deren Ziele es geht. »Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat«, als Zweck an sich selbst, dann » würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs (…) liegen.« 21
    Aber was könnte überhaupt einen absoluten Wert als Zweck an sich selbst haben? Kants Antwort: die Menschheit. »Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen.« 22 Dies, ruft Kant uns in Erinnerung, sei der grundlegende Unterschied zwischen Personen und Sachen. Personen sind vernünftige Wesen. Sie besitzen nicht nur einen relativen Wert, sondern einen absoluten Wert in sich selbst. Das heißt, vernünftige Wesen haben Würde.
    Diese Argumentation führt Kant zur zweiten Formulierung des kategorischen Imperativs: »Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.«

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