Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
andere dagegen nach außen. Einige der besonderen Verantwortlichkeiten, die aus den speziellen Gemeinschaften hervorgehen, in denen ich lebe, schulde ich vielleicht den anderen Mitgliedern. Andere aber könnte ich denen schulden, mit denen meine Gemeinschaft eine moralisch belastete Vergangenheit teilt, wie etwa in der Beziehung der Deutschen zu den Juden oder der amerikanischen Weißen zu den Afroamerikanern. Kollektive Entschuldigungen und Reparationen für historisches Unrecht sind gute Beispiele dafür, wie Solidarität moralische Verantwortlichkeiten für Gemeinschaften hervorbringen kann, die nicht meine eigenen sind. Ein Unrecht wiedergutzumachen, das im Namen meines Landes begangen worden ist, ist eine Möglichkeit, meine Zugehörigkeit zu ihm zu bekräftigen.
Manchmal kann uns Solidarität einen besonderen Grund liefern, unser eigenes Volk oder Handlungen unserer Regierung zu kritisieren. Patriotismus kann Widerspruch erzwingen. Sehen wir uns beispielsweise zwei verschiedene Gründe an, die Menschen dazu brachten, gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. Einer war der Überzeugung geschuldet, der Krieg sei ungerecht; der andere dem Empfinden, der Krieg sei unserer unwürdig und unamerikanisch. Der erste Grund kann von Gegnern des Krieges geteilt werden – unabhängig davon, wer sie sind oder wo sie leben. Der zweite Grund dagegen kann nur von Bürgern des Landes empfunden und ausgesprochen werden, das für den Krieg verantwortlich ist. Ein Schwede könnte gegen den Vietnamkrieg sein und ihn für ungerecht halten, doch nur ein Amerikaner könnte angesichts des Krieges Scham empfinden.
Stolz und Scham sind moralische Empfindungen, die eine gemeinsame Identität voraussetzen. Amerikaner auf Auslandsreisen können peinlich berührt sein, wenn sie auf amerikanische Touristen mit flegelhaftem Benehmen stoßen, selbst wenn sie sie nicht persönlich kennen. Nichtamerikaner würden das gleiche Benehmen vielleicht für schimpflich halten, könnten sich aber nicht dafür schämen.
Die Fähigkeit, sich für Handlungen von Familienmitgliedern und Mitbürgern zu schämen, hängt mit der Fähigkeit zu kollektiver Verantwortung zusammen. Beides verlangt, dass wir uns als konkret situierte Individuen betrachten – herausgefordert von moralischen Bindungen, die wir uns nicht ausgesucht haben, und einbezogen in Narrative, die unsere Identität als moralisch Handelnde formen.
Angesichts dieser engen Verbindung zwischen einer Ethik des Stolzes und der Scham und einer Ethik kollektiver Verantwortlichkeit ist es verblüffend, auf Konservative zu stoßen, die kollektive Entschuldigungen aus individuellen Gründen ablehnen (wie beispielsweise Henry Hyde, John Howard und andere, die hier genannt wurden). Wenn man darauf besteht, wir seien als Individuen allein und ausschließlich für unsere eigenen Entscheidungen und Handlungen verantwortlich, wird es schwierig, Stolz für die Geschichte und die Tradition des eigenen Landes zu entwickeln. Jedermann an jedem Ort kann die Unabhängigkeitserklärung, die Verfassung, Lincolns Rede von Gettysburg, die im Arlington National Cemetery geehrten Helden und so weiter bewundern. Patriotischer Stolz hingegen erfordert einen Sinn dafür, einer sich über die Zeit erstreckenden Gemeinschaft anzugehören.
Mit der Zugehörigkeit kommt Verantwortlichkeit. Für das eigene Land und seine Geschichte kann man keinen Stolz entwickeln, wenn man keinerlei Verantwortung für die Kontinuität dieser Geschichte in der Gegenwart anerkennen und sich der moralischen Lasten entledigen will, die damit einhergehen.
Gerechtigkeit und das gute Leben
Wir haben nun eine Reihe von Beispielen betrachtet, mit denen die auf vertraglichen Abmachungen beruhende Vorstellung in Zweifel gezogen werden sollte, wonach wir die uns beschränkenden moralischen Verpflichtungen ausschließlich selbst bestimmen. Es ging um öffentliche Entschuldigungen und Reparationen; kollektive Verantwortung für historisches Unrecht; die besonderen Verantwortlichkeiten von Familienangehörigen und Mitbürgern füreinander; Solidarität mit Kameraden; die Bindung an Wohnort, Gemeinschaft oder Land; Patriotismus, Stolz und Scham für das eigene Land oder Volk; Loyalität von Geschwistern oder Nachkommen. Die in diesen Beispielen aufscheinenden Solidaritätsforderungen sind vertraute Merkmale unserer moralischen und politischen Erfahrung. Ohne diesen Hintergrund wäre es schwierig, zu leben oder unser Leben sinnvoll zu gestalten. Gleichermaßen
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