Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
voluntaristische Vorstellung vom Menschen zu dürftig ist – falls also all unsere Verpflichtungen nicht aus unserem Willen hervorgehen –, wie können wir uns dann als in die Welt gestellt und trotzdem frei ansehen?
Verpflichtungen jenseits von
Vereinbarungen
Rawls’ Antwort würde lauten: Nein. Nach der liberalen Vorstellung können Verpflichtungen nur auf zwei Wegen entstehen: als natürliche Pflichten, die wir den Menschen als solchen schulden, und als freiwillige Verpflichtungen, die wir durch Übereinkunft eingehen. 43
Natürliche Pflichten sind universell gültig. Wir schulden sie Personen in ihrer Eigenschaft als Personen, als rationale Wesen. Das schließt die Pflicht ein, andere Menschen mit Respekt zu behandeln, Gerechtigkeit zu üben, Grausamkeit zu vermeiden und so weiter. Da sie aus einem autonomen Willen (Kant) oder aus einem hypothetischen Gesellschaftsvertrag (Rawls) hervorgehen, erfordern diese Pflichten keinen Akt der Übereinkunft. Niemand würde etwa sagen, ich sei nur dann verpflichtet, einen anderen nicht zu töten, wenn ich ihm versprochen hätte, es nicht zu tun.
Im Gegensatz zu natürlichen Pflichten sind freiwillige Verpflichtungen auf den speziellen Fall bezogen und nicht universell gültig. Wenn ich beispielsweise zugestimmt habe, das Haus meines Nachbarn zu streichen (etwa im Tausch gegen eine Bezahlung oder als Ausgleich für einen Gefallen), bin ich verpflichtet, diese Zusage auch auszuführen.
Nach der liberalen Vorstellung müssen wir die Würde aller Menschen achten, doch darüber hinaus schulden wir ihnen nur das, wozu wir uns bereit erklärt haben. Die liberale Gerechtigkeit verlangt, dass wir die Rechte der anderen (wie sie durch den neutralen Rahmen definiert sind) respektieren, aber nicht, dass wir ihr Wohlergehen fördern. Ob wir uns mit dem Wohlergehen anderer Menschen befassen müssen, hängt davon ab, ob und mit wem wir eine entsprechende Übereinkunft getroffen haben.
Eine augenfällige Implikation ist für Rawls, dass »es für den allgemeinen Bürger streng genommen keine politischen Verpflichtungen gibt«. Auch wenn jeder, der sich um ein Amt bewirbt, freiwillig eine politische Verpflichtung eingeht (also im Falle der Wahl seinem Land zu dienen), gilt eine solche Verpflichtung nicht für den gewöhnlichen Bürger. Rawls schreibt: Es »ist nicht recht klar, wer welchen verpflichtenden Akt ausgeführt haben soll«. 44 Wenn also die liberale Erklärung der Verpflichtung richtig ist, dann hat der Durchschnittsbürger seinen Mitbürgern gegenüber keine besonderen Verpflichtungen jenseits der universellen, natürlichen Pflicht, kein Unrecht zu begehen.
Aus Sicht der narrativen Vorstellung vom Menschen ist die liberale Erklärung der Verpflichtungen zu dünn. Sie kann die gegenseitige Verantwortung nicht erklären, die uns mit unseren Mitbürgern verbindet. Zudem ist sie nicht imstande, jene Loyalitäten und Verpflichtungen zu erfassen, deren moralische Kraft zum Teil auf der Tatsache beruht, dass wir uns als Mitglieder einer Familie oder Nation oder eines Volkes verstehen, als Träger einer bestimmten Geschichte, als Bürger einer Republik. Der narrativen Erklärung zufolge sind all diese Identitäten keine Zufälligkeiten, die wir beiseiteschieben sollten, wenn wir über Moral und Gerechtigkeit nachdenken – sie sind Teil dessen, wer wir sind, und beeinflussen deshalb zu Recht auch unsere moralische Verantwortung.
Wenn wir uns also zwischen der voluntaristischen und der narrativen Vorstellung der Person entscheiden wollen, können wir beispielsweise fragen, ob es unserer Ansicht nach eine dritte Kategorie von Verpflichtungen gibt – nennen wir sie Verpflichtungen der Solidarität oder der Mitgliedschaft –, die nicht mit dem vertragstheoretischen Vokabular zu erklären sind. Im Gegensatz zu natürlichen Pflichten sind Verpflichtungen aus Solidarität auf den speziellen Fall bezogen und nicht universell gültig; sie betreffen moralische Verpflichtungen, die wir nicht rationalen Wesen als solchen schulden, sondern den Menschen, mit denen wir eine bestimmte Geschichte teilen. Doch anders als freiwillige Verpflichtungen hängen sie nicht von einem Akt der Übereinkunft ab. Ihr moralisches Gewicht leitet sich vielmehr aus der Position ab, aus der ich moralische Überlegungen anstelle – ich erkenne dabei an, dass meine Lebensgeschichte mit den Geschichten anderer verwoben ist.
Es lassen sich drei Kategorien moralischer Verantwortlichkeit voneinander
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