Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
von der weiter gefassten Frage ab, wie viele zivile Opfer für die Befreiung Frankreichs gerechtfertigt sein mochten. Die Notwendigkeit des Auftrags oder die Zahl der verlorenen Menschenleben wurde von dem Piloten nicht in Frage gestellt. Ihm kam es darauf an, dass er nicht selbst diese speziellen Menschenleben auslöschte. Ist das Widerstreben des Piloten pure Zimperlichkeit oder steht es für einen moralisch bedeutsamen Zusammenhang? Wenn wir den Piloten bewundern, dann sicher deswegen, weil er seine Befangenheit als Mitglied seiner Dorfgemeinschaft eingesteht – wir bewundern den Charakter, der sich in seinem Widerstreben spiegelt.
Die Rettung äthiopischer Juden
Anfang der 80er Jahre vertrieb eine Hungersnot in Äthiopien ungefähr 400 000 Flüchtlinge in den benachbarten Sudan. Dort vegetierten sie in Flüchtlingslagern. 1984 startete die israelische Regierung eine verdeckte Luftbrücke mit der Bezeichnung »Operation Moses«, um äthiopische Juden (bekannt als Falashas) nach Israel auszufliegen. 45 Es wurden mehrere Tausend äthiopische Juden gerettet, ehe man das Programm abbrach, nachdem arabische Regierungen den Sudan dazu gedrängt hatten, die Flüge zu stoppen. Der damalige israelische Premierminister Shimon Peres erklärte: »Wir werden nicht ruhen, solange nicht alle unsere Brüder und Schwestern sicher nach Hause zurückgekehrt sind.« 46 Als die im Sudan zurückgebliebenen äthiopischen Juden 1991 durch Bürgerkrieg und Hungersnot bedroht waren, startete Israel sogar eine noch aufwendigere Luftbrücke, mit der weitere 14 000 Falashas nach Israel gebracht wurden. 47
War es richtig, dass Israel die äthiopischen Juden gerettet hat? Es ist schwer, sich die Luftbrücke anders denn als heroische Aktion vorzustellen. Die Falashas waren in einer verzweifelten Lage und wollten nach Israel kommen. Und Israel als jüdischer, im Anschluss an den Holocaust gegründeter Staat war geschaffen worden, um den Juden eine Heimat zu bieten. Aber nehmen wir an, jemand würde folgende Frage stellen: Hunderttausende äthiopischer Flüchtlinge litten Hunger. Wenn Israel angesichts seiner begrenzten Ressourcen nur einen kleinen Teil von ihnen retten konnte, warum hätte es dann nicht per Losentscheid bestimmen sollen, welche 7000 Äthiopier gerettet werden würden? Warum war die Luftbrücke, die ausschließlich den äthiopischen Juden zugutekam, kein Akt unfairer Diskriminierung?
Für den, der Verpflichtungen aus Solidarität und Zugehörigkeit akzeptiert, liegt die Antwort auf der Hand: Israel hat gegenüber Juden eine besondere Verantwortung, die über die Pflicht hinausgeht, Flüchtlingen ganz allgemein zu helfen.
Nun ist jedes Land verpflichtet, die Menschenrechte zu achten. Dies erfordert, dass es entsprechend seinen Möglichkeiten Menschen zu Hilfe kommt, die unter Hunger, Verfolgung oder Vertreibung aus ihrer Heimat leiden. Es handelt sich um eine universelle Verpflichtung, die mit Kant zu rechtfertigen ist – eine universelle Pflicht, die wir Menschen in ihrer Eigenschaft als Menschen schulden (Kategorie 1 von Seite 307). Die Frage, die wir zu entscheiden versuchen, bezieht sich darauf, ob einzelne Länder für ihre Staatsangehörigen eine weiter reichende, besondere Verantwortung tragen. Als der israelische Premierminister die äthiopischen Juden als »unsere Brüder und Schwestern« bezeichnete, berief er sich auf eine vertraute Metapher für Solidarität. Solange man eine solche Vorstellung nicht akzeptiert, dürfte man nur schwer erklären können, warum Israel seine Luftbrücke nicht per Losentscheid hätte durchführen sollen.
Ebenso schwer dürfte es einem fallen, Patriotismus zu rechtfertigen.
Solidarität und Verantwortung
Natürlich teilt nicht jeder die Meinung, wir hätten besondere Verpflichtungen gegenüber unserer Familie, unseren Kameraden oder unseren Mitbürgern. Einige bringen vor, die sogenannte Solidarität sei letztlich nur kollektiver Egoismus, ein Vorurteil zugunsten unseresgleichen. Diese Kritiker räumen ein, dass wir uns üblicherweise mehr um unsere Familie, Freunde und Kameraden kümmern als um andere, fragen aber zugleich, ob diese verstärkte Sorge für die eigenen Leute nicht eine engstirnige, egoistische Neigung sei, die wir lieber überwinden sollten, anstatt sie im Namen von Patriotismus oder Brüderlichkeit aufzuwerten.
Nein, nicht zwangsläufig. Manche Verpflichtungen aufgrund von Solidarität und Mitgliedschaft weisen nach innen – auf die mir zugehörigen Menschen –,
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