Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
unterscheiden:
Natürliche Pflichten – sind universell und erfordern keine Übereinkunft.
Freiwillige Verpflichtungen – sind auf den Einzelfall bezogen und erfordern eine Übereinkunft.
Verpflichtungen aus Solidarität – sind auf den Einzelfall bezogen und erfordern keine Übereinkunft.
Solidarität und Zugehörigkeit
Nun folgen einige mögliche Beispiele für Verpflichtungen aus Solidarität oder aufgrund der Mitgliedschaft. Wir wollen uns überlegen, ob sie moralisch von Gewicht sind und, falls ja, ob ihre moralische Kraft auf einer vorher getroffenen Übereinkunft beruht.
Familiäre Verpflichtungen
Als elementares Beispiel kennen wir die besondere Verantwortung von Familienmitgliedern füreinander. Nehmen wir an, zwei Kinder seien in Gefahr zu ertrinken, und aus zeitlichen Gründen kann ich nur eines von ihnen retten. Eines ist mein eigenes Kind, das andere ist das Kind eines Fremden. Wäre es falsch, das eigene Kind zu retten? Wäre es besser, eine Münze zu werfen? Die meisten Menschen würden sagen, es sei kein Unrecht, das eigene Kind zu retten, und fänden den Gedanken verrückt, der Fairness wegen müsse ein Münzwurf entscheiden. Hinter dieser Reaktion steht die Vorstellung, Eltern hätten eine spezielle Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Kinder. Manche meinen, diese Verantwortung gehe aus einer Abmachung hervor – wenn Eltern beschlössen, Kinder zu haben, gingen sie freiwillig die Verpflichtung ein, sich mit besonderer Sorgfalt um sie zu kümmern.
Um uns der Frage der Abmachung zu entledigen, können wir den Sachverhalt umdrehen: Wie sieht es mit der Verantwortung von Kindern gegenüber ihren Eltern aus? Nehmen wir an, zwei alte Menschen bedürften der Pflege; es handelt sich um meine Mutter und um die Mutter einer anderen Person. Obwohl es bewundernswert wäre, wenn ich mich um beide kümmern könnte, würden die meisten Menschen darin übereinstimmen, dass ich vor allem dafür verantwortlich bin, meine Mutter zu versorgen. In diesem Fall ist nicht ersichtlich, dass eine vorherige Übereinkunft erklären könnte, warum das so ist. Ich habe meine Eltern nicht gewählt; ich habe mir nicht einmal selbst ausgesucht, Eltern zu haben.
Man könnte vorbringen, die moralische Verantwortung, für meine Mutter zu sorgen, leite sich daraus ab, dass sie sich um mich gekümmert habe, als ich klein gewesen sei. Weil sie mich aufgezogen und umsorgt habe, sei ich verpflichtet, diese Unterstützung zurückzuzahlen. Als ich die Wohltaten akzeptiert habe, die sie mir zukommen ließ, habe ich implizit zugestimmt, ihr im Bedarfsfall etwas zurückzugeben. Diese Aufrechnung des wechselseitigen Nutzens mag manchem zu kalt vorkommen, als dass sie familiäre Verpflichtungen erklären könnte. Nehmen wir jedoch an, wir würden sie akzeptieren – was würden wir dann von jemandem sagen, der von einer Mutter vernachlässigt oder mit Gleichgültigkeit behandelt wurde? Würden wir sagen, die Qualität der Kinderbetreuung bestimme das Ausmaß, in dem der Sohn oder die Tochter verantwortlich sei, den Eltern bei Bedarf zu helfen? Sofern Kinder verpflichtet sind, auch schlechten Eltern zu helfen, könnte diese moralische Forderung über die liberale Ethik von Gegenseitigkeit und Übereinkunft hinausgehen.
Französische Widerstandsbewegung
Begeben wir uns von der Sphäre der Familie zu den kollektiven Verpflichtungen. Während des Zweiten Weltkriegs flogen Mitglieder der französischen Widerstandsbewegung Bombenangriffe auf das von den Nazis besetzte Frankreich. Obwohl sie auf Fabriken und andere militärische Objekte zielten, konnten sie Opfer unter der Zivilbevölkerung nicht vermeiden. Eines Tages erhält ein Bomberpilot seine Befehle und stellt fest, dass das Ziel sein Heimatdorf ist. (Die Geschichte ist vielleicht nicht wahr, wirft aber eine faszinierende moralische Frage auf.) Er bittet darum, von dem Auftrag entbunden zu werden. Er akzeptiert, dass die Bombardierung dieses Dorfes für die Befreiung Frankreichs ebenso notwendig ist wie der Auftrag, den er am Tag zuvor ausgeführt hat. Ihm ist auch klar, dass es ein anderer tut, wenn er sich weigert. Sein Einwand gründet sich darauf, dass nicht er es sein möchte, der sein eigenes Dorf bombardiert und vielleicht einige der Bewohner tötet. Für ihn, so glaubt er, wäre es selbst um einer gerechten Sache willen ein moralisches Unrecht.
Wie gehen wir mit der Haltung des Piloten um? Bewundern wir sie? Oder werten wir sie als eine Form von Schwäche?
Sehen wir
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