Gerissen: Thriller (German Edition)
Ihr blieb höchstens eine halbe Stunde, wenn sie es rechtzeitig zurück in die Stadt schaffen wollte.
»Ich folge Ihnen«, entschied sie.
Auf dem Parkplatz des Gerichtsgebäudes redete ein Mann mit einem Regenschirm in der einen und einem unordentlichen Aktenstapel in der anderen Hand mit zwei halbstarken Jungen in Kapuzensweatshirts, die völlig durchnässt wurden.
»Hallo, Mickey«, rief Gagnon. »Haben Sie mal ’ne Sekunde?«
Der Mann bedeutete den Jungen, sich nicht von der Stelle zu rühren, und kam herüber.
»Mickey Dunn«, stellte Gagnon vor. »Das hier ist Ivy. Sie schreibt einen Krimi, der auf dem Gold-Dust-Fall basiert.«
»Ja?«, sagte Dunn. »Fürs Fernsehen oder so?«
»Mehr in Buchform«, sagte Gagnon. »Sie hat ein paar Fragen zu Vance Harrow.«
»Ja?«, sagte Dunn.
»Vielleicht könnten wir raus aus dem Regen und reingehen?«, schlug Ivy vor.
»Ich überlasse es Ihnen«, sagte Gagnon und begab sich zur Eingangstreppe des Gerichtsgebäudes.
»Nun«, sagte Dunn. »Ich schätze …« Er drehte sich zu den Teenagern um. »Ihr Jungs geht rein und wartet dort auf mich«, rief er.
»Aber Mr. Dunn«, antwortete einer der beiden. »Was ist mit dieser anderen Sache, Sie wissen schon, auf dem Golf …«
»Wovon zum Teufel redest du?«, fragte Dunn.
»Das unbefugte Eindringen«, rief der andere Junge in einem Ton, der als Bühnenflüstern gedacht war.
»Um Himmels willen, geht einfach rein.« Dunn winkte sie ins Gerichtsgebäude. Der Regen peitschte herab. Ein oder zwei Blätter wurden ihm aus der Hand gerissen und fortgeweht; er schien es nicht zu bemerken. »Sollen wir uns ins Auto setzen?«, fragte er.
Sie saßen in Dunns Auto, einer alten Limousine mit überquellendem Aschenbecher, unter beiden Blenden klemmenden Akten und dem Geruch nach kaltem Kaffee und feuchtem Hund. Dunns Haare, die von Rot zu Grau wechselten, hingen über seinen Kragen und waren nicht besonders sauber. Er langte nach einer Papiertüte, die zwischen die Sitze gequetscht war.
»Krapfen?«, bot er an.
»Nein, danke«, sagte Ivy.
Er nahm einen mit Puderzucker und biss hinein. »Vance Harrow, hm?«, sagte er. »Schnee von gestern.«
»Waren Sie sein Verteidiger?«
»Mhm. Damals war ich Pflichtverteidiger. Mittlerweile bin ich selbständig.« Er kramte eine Visitenkarte heraus und reichte sie ihr.
»Was für eine Strategie hatten Sie?«
»Strategie?«
»Für Harrows Verteidigung.«
Dunn biss wieder ab. »Ich habe ihm gesagt, er soll vor Gericht höflich auftreten und Anzug und Krawatte tragen. So wie er drinhing, blieb nicht viel anderes übrig.«
»Haben Sie ihn jemals gefragt, warum er sich schuldig bekennen wollte?«
»Vermutlich, weil sie ihn kalt erwischt haben«, meinte Dunn.
»Aber haben Sie jemals mit ihm darüber gesprochen?« Ivy war sich der zunehmenden Schärfe ihres Tonfalls bewusst; Dunn, der langsam kaute und dem Zucker am Kinn klebte, schien nichts zu merken.
»Nicht, dass ich mich erinnern könnte«, sagte er. »Seitdem ist viel Wasser den Bach heruntergeflossen.«
»Nicht zu vergessen die verschüttete Milch«, sagte Ivy.
Er nickte, als fände er das einleuchtend. »Das auch.«
Ivy musterte sein Profil: gelassen, unaufgeregt, gemütlich. »Glauben Sie, dass Harrow im Grunde ein guter Mensch war?«, fragte Ivy.
»Oh, sicher«, antwortete Dunn, während er mit dem Rest des Krapfens in Richtung des Gerichtsgebäudes gestikulierte. Die beiden Jungen waren nicht hineingegangen, sondern warteten unter einem Vordach auf der Treppe, wo sie sich in ihre Sweatshirts schmiegten und mit den Füßen scharrten. »Das sind die meisten.«
»Wie ist er dann in den Überfall verwickelt worden?«
»Schlichte Gier«, sagte Dunn. »Das ist das Übliche.«
»Haben Sie mit ihm über seine Motive gesprochen?«
»Mit Vance Harrow?«
»Denken Sie nach«, sagte Ivy. Die Schärfe in ihrem Tonfall war nun nicht mehr zu überhören.
Sein Blick huschte zu ihr hinüber. »Das Buch ist wichtig, hm?«, sagte er. Er dachte nach oder saß zumindest still, ein paar Sekunden stellte er sogar das Kauen ein. »Nein«, sagte er. »An ein solches Gespräch kann ich mich nicht erinnern.«
»Was ist mit dem Überwachungsvideo des Casinos?«, fragte Ivy. »Können Sie sich daran erinnern?«
»Aber ja«, sagte Dunn. »Der Stamm hatte das System gerade erst installiert – ich konnte kaum glauben, wie scharf die Bilder waren.«
Ivy hätte ihn schlagen können. Stattdessen holte sie tief Luft. »Und da sie so scharf waren,
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