Gerissen: Thriller (German Edition)
zur Teerstraße und folgte ihr bis zur Ransom Road. Danach links und den langen, steilen Hügel hinunter, wo man während eines Eissturms so leicht ins Schleudern geraten konnte. Ivy parkte vor Claudettes Haus.
Bei Tage sah sie, was ihr in der Nacht entgangen war: einen Carport neben dem Haus, der einen alten rostigen BMW der kleinsten Sorte beherbergte. Ivy trat auf die Veranda, klopfte an die Haustür. Keine Antwort. Sie klopfte erneut, fester. Das Haus blieb ruhig. War Claudette zur Arbeit? Ivy wollte unbedingt noch einmal das Foto sehen: Harrow, Betty Ann, Claudette, Mandrell. Sie probierte die Tür. Abgeschlossen. Gab es einen Unterschied zwischen dem Betreten eines Hauses ohne Einladung, jedoch durch eine unverschlossene Tür, und einem Einbruch? Ja. Aber wie groß war der im Vergleich zu einem unschuldigen Mann – vielleicht einem großen Künstler –, der Häftling bleiben oder freikommen konnte? Nicht besonders groß.
Ivy ging hinüber zum Carport und versuchte es am Nebeneingang. Auch abgeschlossen. Daneben befand sich ein kleines Fenster. Sie sah sich um. Von der Straße aus war sie praktisch unsichtbar, und an diesem Ende der Ransom Road standen keine anderen Häuser. Ivy drückte die Handflächen gegen das Fenster und schob. Es glitt nach oben. Sie zögerte einen Augenblick: Das Ganze ähnelte dem, was sie im Les Girls erlebt hatte, nur andersherum. Über Nacht war aus der Beute das Raubtier geworden; es musste ein Schritt in die richtige Richtung sein. Ivy zog sich hoch und kletterte in Claudettes Haus.
Sie stand in einem kleinen Flur. An einem Haken hing Claudettes Wal-Mart-Kittel. Stellte Wal-Mart mehr als einen zur Verfügung? Ivy wusste es nicht. Sie ging durch die Küche ins Wohnzimmer. Dunkel, die Jalousien heruntergelassen. Sie nahm das Foto vom Sims. In der Dämmerung schienen sich alle jeden Moment bewegen zu wollen – Harrow, Betty Ann, Claudette, Mandrell. Der nach innen gerichtete Blick von Betty Ann: Hatte sie sich über etwas Sorgen gemacht? Mit dem Foto in der Hand trat Ivy zum Fenster. Sie wollte gerade die Jalousie hochziehen, um mehr Licht hereinzulassen, als in der Nähe ein schwaches Stöhnen erklang.
Ivy ließ die Kordel los. Die Jalousie fiel mit einem scharfen Klack, das Geräusch hallte wie Donner durchs Haus.
Dann eine Stimme. »Was zum Teufel?«
Die Stimme einer Frau – verschlafen, vielleicht verkatert. Auf dem Sofa änderte eine schwere Gestalt die Form.
»Claudette?«, fragte Ivy.
»Ja. Wer ist da?«
»Ich bin’s«, sagte Ivy, während sie die Jalousie hochzog. Ein Lichtstrahl fiel herein. »Ivy.«
»Hä?«
Claudette setzte sich auf und schützte ihre Augen vor dem Licht. Eine ihrer Brüste fiel aus dem zerknitterten Bademantel. Auf dem Tisch neben ihr standen eine leere Flasche Bailey’s Irish Cream und ein Aschenbecher voller Kippen und einem halbgerauchten Joint. Ivy trat näher.
»Erinnern Sie sich?«, fragte sie. »Wir haben zusammen im Tiki Boat gegessen.«
Claudette blinzelte sie an. »Tun Sie mir einen Gefallen?«, fragte sie.
»Sicher.«
»Wasser.«
Ivy ging in die Küche und kehrte mit einem Glas Wasser zurück. Claudette legte den Kopf in den Nacken und leerte es; ihr Hals war faltig und gedunsen, wirkte wesentlich älter als der Rest von ihr.
Ivy schob die Bailey’s-Flasche zur Seite und setzte sich auf den Tisch.
Claudette sah sie an und zwinkerte. »Bisschen unordentlich«, sagte sie. »Party gestern Abend.«
»Viele Leute?«, fragte Ivy.
»Nur meine Wenigkeit«, antwortete Claudette. »Ganz intim.« Sie merkte, dass ihr Bademantel offen stand und zog ihn zusammen. »Was machen Sie hier?«, fragte sie. »Hey? Wie zum Teufel sind Sie überhaupt reingekommen?«
»Die Tür war offen«, sagte Ivy.
»Echt?«, erwiderte Claudette.
Ivy nickte.
»Scheiße«, sagte Claudette und sank zurück auf das Sofa.
Ivy hielt das Foto hoch. »Ich würde gern eine Kopie davon machen«, sagte sie.
»Wie?«, fragte Claudette.
»Wie?«, wiederholte Ivy. »In irgendeinem Copyshop.«
»Oh«, sagte Claudette. »Ich dachte – Sie wollten es vielleicht abzeichnen oder so.«
»Nur eine Fotokopie«, sagte Ivy. »Ich bringe das Original sofort wieder zurück.«
»Davon gehe ich aus«, erwiderte Claudette, die sich wieder aufsetzte. »Weshalb wollen Sie es haben?«
»Erinnern Sie sich an das Buch, von dem ich Ihnen erzählt habe?«
»Eigentlich nicht.« Claudettes Blick wanderte zu dem halben Joint im Aschenbecher.
Ivy begann mit ihrer Geschichte
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