Gerissen: Thriller (German Edition)
leeren Haus ohne Nummer mit dem verblichenen ZU VERKAUFEN-Schild. Zeit: 8:38. Fahrtdauer vom Bootsanleger: vierundzwanzig Minuten. Gesamtzeit: vierzig Minuten.
Ivy musterte das Haus. Es war von Bäumen umringt, deren Äste das Dach streiften. Auf den Schindeln wucherte Moos, von Haustür und Fensterrahmen blätterte die Farbe. Harrow war dort drin gewesen und hatte das Wohnzimmer gesaugt, während Betty Ann bereits fort war. Wie viel Zeit war zwischen dem Überfall und Ferdies Eintreffen verstrichen? Hatte er es ihr erzählt? Ivy dachte nach, aber sie konnte sich nicht erinnern.
Sie rief im Polizeirevier von West Raquette an und wurde zu Ferdie Gagnon durchgestellt.
»Natürlich erinnere ich mich an Sie«, sagte er. »Wie geht es mit Ihrem Krimi voran?«
»Der ist noch in der Planungsphase«, antwortete Ivy. »Ich hätte einige –«
»Machen Sie erst einen Entwurf oder so was in der Richtung?«, fragte Gagnon.
»Das kommt als Nächstes«, sagte Ivy. »Im Augenblick versuche ich noch immer, alle Fakten zusammenzukriegen.«
»Fakten? Aber –«
»Zum Beispiel, wie viel Zeit zwischen dem Überfall und Mandrells Verhaftung lag«, sagte Ivy.
»Zwanzig, fünfundzwanzig Minuten«, erwiderte Gagnon.
»Und von da bis zu dem Zeitpunkt, an dem Sie Harrow verhafteten?«
Sie hörte, wie er nachdenklich tief durch die Nase Luft holte. »Ungefähr weitere fünfundzwanzig Minuten, allerhöchstens eine halbe Stunde.« Warpgeschwindigkeit. »Falls Sie mal wieder hier vorbeikommen, könnte ich die Akten einsehen und Ihnen präzisere Auskünfte geben.«
»Danke.«
»Aber ich verstehe nicht«, sagte Gagnon, »warum es darauf ankommt.«
»Warum nicht?«
»Sie können sich doch ausdenken, was Sie wollen, stimmt’s?«
»Stimmt«, bestätigte Ivy.
»Selbstverständlich will ich Ihnen nicht vorschreiben, wie Sie Ihren Job machen müssen«, sagte Gagnon. Im Hintergrund klingelte ein Telefon.
»Eins noch«, sagte Ivy. »Hatte Mandrell ein Auto unten an dem Anleger?«
»Ja«, sagte Gagnon. »Einen BMW – der ist immer noch auf der Straße.« Er lachte. »Im Augenblick natürlich nicht.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Ivy.
»Der BMW gehört Claudette Price«, erklärte Gagnon, »und ihr wurde wegen Alkohol am Steuer vorübergehend der Führerschein abgenommen.«
»Claudette fährt Mandrells altes Auto?«
»An Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern«, antwortete Gagnon. »Er und Claudette haben sich immer wieder getrennt und versöhnt.«
»Wo war Claudette in der Nacht des Überfalls?«, fragte Ivy.
»Das weiß ich nicht – ihr Name tauchte bei den Ermittlungen gar nicht auf.« Gagnon verstummte. Als er wieder redete, war sein Ton nicht mehr ganz so freundlich. »Aber Sie können daraus machen, was Sie wollen. Solange Sie die Namen ändern.«
Ivy stieg aus dem Wagen. Sie ging um Harrows und Betty Anns altes Haus. Ein Windstoß wirbelte Laub auf, harte, tote Blätter, die gegen die Aluminiumverkleidung stießen. Ivy spähte durch ein schmutziges Fenster in die Küche. Eine Ratte quetschte sich durch einen Riss in der Wand, rannte über den Boden und durch die Tür, die zum Keller führte.
Die Wahrheit: Mandrell trifft mit dem Geld am Anleger ein. Innerhalb weniger Minuten wird er von der Grenzpatrouille aufgegriffen. Kein Geld.
Ivy starrte in die jetzt kahle Küche, kein Tisch, keine Stühle, Geräte, aber früher die Bühne kleiner häuslicher Szenen – vielleicht Harrow, der mit einem Kaffee in der Hand hinter Betty Ann auftauchte und ihr Haar streichelte. In diesem Augenblick erinnerte sich Ivy an etwas, das Gagnon ihr erzählt hatte: Nach dem Überfall sollten sich alle an dem Anleger treffen, einschließlich Betty Ann. Weil sie nicht auftauchte, wusste Mandrell, dass Harrow ihn hereingelegt hatte.
Aber Harrow hatte Mandrell nicht hereingelegt: Tatsächlich saß er wegen Mandrells erfundener Geschichte im Gefängnis. Ja, er hatte sich schuldig bekannt, aber allein, um Betty Ann zu schützen. Betty Ann, die mit dem Geld verschwunden war. War es also möglich, dass Mandrell gelogen hatte und sie doch am Anleger gewesen war? Natürlich nur ein oder zwei Minuten ehe die Grenzpatrouille auftauchte, aber lange genug, um das Geld zu holen. Und dann? Ivy hatte keinen Schimmer. Sie dachte an Professor Smallian. Er mochte keine traditionellen Geschichten, aber denen, die an Anfang, Mitte, Ende hingen, gab er stets denselben Rat: Beginnen Sie mit dem Ende.
Ivy stieg ins Auto. Sie holperte über den Feldweg bis
Weitere Kostenlose Bücher