German Angst
senden, aber bis ein Richter entschieden hat, werden sie diesen Dreck ausstrahlen, jede Stunde, jede halbe Stunde, die lassen sich das doch nicht entgehen! Ich bin am Ende, die Stelle hier kann ich vergessen, danke Lucy, danke!
Tabor Süden dachte an Lucys Vater, den er in einer Pension in Giesing untergebracht hatte, um ihn vor den Reportern zu schützen. Die Pension lag in der Nähe seiner Wohnung, und er übernachtete manchmal selbst dort, wenn er die Wände nicht mehr aushielt und die Stimmen, die seinen Schlaf sezierten. Und bisher war alles gut gegangen, kein Journalist hatte den neuen Aufenthaltsort Aranos herausgefunden, die Wirtsleute waren stumm wie ihre Fische im Aquarium unten in der Gaststube.
Zusammen mit Ira Horn und Melanie, die er zu ihm geschickt hatte, würde Arano jetzt diesen Bericht sehen und Süden wünschte, er wäre bei ihm. Warum hatte Lucy das getan? Gerade wurde die Szene, als Lucy aufsprang, wiederholt, sie sollte noch oft wiederholt werden, und ein Mann, den man nicht sah, sagte: »Am eigenen Leib bekam unsere Chefreporterin Nicole Sorek zu spüren, welche Aggressionen, welch zerstörerisches Potenzial und welche unberechenbaren Kräfte in diesem vierzehnjährigen Mädchen stecken, die…«
»… auf den ersten Blick so freundlich, so vertrauensselig wirkt mit ihren großen dunklen Augen, ihren kindlichen Zöpfen mit den bunten Steinchen darin, mit diesem Babyspeckgesicht. Lucy Arano wirkt wie ein ganz normales Kind, das…«
Christoph Arano kniete vor dem Fernseher und streckte die Hand nach dem Bild seiner Tochter aus. Alte Fotos wurden eingeblendet, die schon in den Zeitungen erschienen waren, und dann, immer wieder, der Moment, in dem sie die Reporterin angreift. Ira Horn hielt ein Cognacglas in der Hand und schwenkte es ununterbrochen. Melanie rauchte ununterbrochen. Das ganze Zimmer stank nach Rauch, aber das war ihnen egal.
»… vielleicht ein bisschen zu trotzig dreinblickt, vielleicht ein bisschen arrogant daherkommt, doch niemand würde vermuten, dass hinter diesem weichen schwarzen Gesicht Gefühle schlummern, die für andere Menschen lebensbedrohlich werden können. Nur mit großer Not gelang es Nicole Sorek…«
»… die Arme hochzuhalten und die fürchterlichen Schläge abzuwehren. Wie besessen ging Lucy Arano auf die Reporterin los, verletzte sie schwer im Gesicht, traf ihre Nase, ihre Augen und schien nicht das geringste Mitleid für ihr Opfer zu empfinden. Die anwesende Psychologin…«
Eigentlich hatte Norbert Scholze kein Bier mehr trinken wollen, doch dann, als der Sender den Exklusivbericht ankündigte, rief er laut nach seiner Frau, die in der Küche gerade die Spülmaschine ausräumte, und Senta brachte zwei frische Biere mit. Es war ihre Idee gewesen, auch Nicole Sorek eine Kopie des Briefs zu schicken, nicht nur dem Anwalt des Mädchens. Senta verfolgte jede Ausgabe von »Vor Ort«, für sie war Nicole Sorek die beste Reporterin im deutschen Fernsehen. Weil sie unerschrocken und zielstrebig auftrat, nicht so verklemmt und verhuscht wie die meisten anderen, bei denen Senta manchmal aus Versehen beim Zappen landete, Nicole war die Professionellste von allen, und vielleicht würde sie einmal ein Porträt über sie in der Republikanischen Zeitung schreiben. Ja, dachte sie jetzt wieder, das muss ich machen, grad aus diesem Anlass, sie ist bestimmt bereit zu einem Interview, ich kenn sie, die ist nicht zickig.
»… Elisabeth Kurtz, die Lucy Arano im Gefängnis betreut, konnte nur noch hilflos zusehen, wie ihre Patientin in einem Anfall von Raserei und Zerstörungswut auf den Tisch sprang.
In der Zwischenzeit hat sich Nicole Sorek von dem Schock erholt und wir freuen uns sehr, dass sie trotz ihrer Verletzungen bereit ist, uns vor der Kamera exklusiv von den Ereignissen im Jugendgefängnis am Neudeck zu berichten. Guten Abend, Nicole, wie gehts dir im Moment? Sieht ja schlimm aus.«
»Hallo, Dieter…«
Zum ersten Mal zeigte die Kamera den Mann. Er war Anfang vierzig, trug einen blauen Anzug mit Krawatte und hatte einen Kugelschreiber in der Hand. Sein Name wurde eingeblendet: Dr. Dieter Fromm, Chefredakteur.
»Den hab ich schon mal gesehen«, sagte Senta Scholze. Ihr Mann sagte während der ganzen Sendung kein Wort.
»Ja, das waren Augenblicke, die man so schnell nicht vergisst«, sagte Nicole Sorek. Ihr Gesicht war stark geschminkt, außer der Bandage über der Nase hatte sie ein Pflaster auf der Stirn und einen dicken weißen Verband um den Hals, von
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