German Angst
Nicole Sorek, während abermals gezeigt wurde, wie Lucy schrie: Sag nie wieder Lucy zu mir!… »Ich wollte nur wissen, warum sie ausgerechnet diese bestimmte CD haben wollte und keine andere…«
»Weil du keine Ahnung hast, du Vollniete!«, sagte Lucy und es waren fast dieselben Worte, die in diesem Moment aus dem Fernseher zu hören waren.
»Was hat es denn mit dieser CD auf sich?«, fragte Elisabeth Kurtz mit weinerlicher Stimme.
»Nichts«, sagte Lucy, drehte sich um und verließ das Büro. Süden folgte ihr.
»Und das war der Auslöser für diese Wahnsinnstat«, sagte Nicole Sorek, »diese unverfängliche, einfache Frage…«
»Ich habe es lange nicht glauben können, aber jetzt ist mir klar: Dieses Mädchen ist eine Bedrohung…«
»Und du bist eine Bedröhnung«, brummte Kenny, zündete sich eine Zigarette an und streckte sich aus. Er lag in seinem Zimmer auf dem Bett, die Fernbedienung neben sich, und feuerte Lucy jedes Mal an, wenn sie zuschlug. Als die Sendung anfing, hatte er auf der Stelle Jupiter und Max angerufen und seitdem standen sie in ständigem Kontakt miteinander. Jeder hatte sein Handy griffbereit und wenn es etwas zu kommentieren gab, rief einer den anderen an. Diesmal war Max am Apparat. »Hast du gesehen«, sagte er, »der Typ, der schaut nur zu, der kann die Tussi anscheinend auch nicht ausstehen.« – »Bist du bekifft oder was?«, sagte Kenny. »Die lassen die Lucy weitermachen, weil das besser kommt in der Glotze, das ist die wahre Action, das ist Unterhaltung.« – »Yes«, sagte Max. Kenny brach die Verbindung ab, weil die Dumpfbacke ihm auf den Wecker ging. Im nächsten Moment klingelte sein Handy wieder. »Was denkst du, machen die jetzt mit ihr?«, fragte Jupiter, der im Wohnzimmer seiner Eltern auf dem Boden hockte und mit seinem zehnjährigen Bruder Blackjack spielte. Ihre Eltern waren in irgendeiner Oper, den Titel hatte Jupiter vergessen. »Klapsmühle«, sagte Kenny. – »Scheiße«, sagte Jupiter, »wir müssen sie besuchen, vielleicht können wir sie rausholen.« – »Vergiss es! Die werden sie so bewachen, dass niemand an sie rankommt. Ich hab keinen Bock auf die Bullen, ich halt mich da raus.« – »Ich besuch sie, sie ist der Boss, immer noch, ich lass die Lucy nicht hängen, ich fahr gleich morgen hin.« – »Dann fahr hin!«, sagte Kenny und kappte die Verbindung. Jetzt war die Tussi wieder groß im Bild und Kenny streckte ihr den Mittelfinger entgegen. Er fand, Lucy war viel zu nett zu ihr gewesen, sie hätte sie richtig alle machen sollen, so voll crash demolieren, dass bloß noch Teile übrig blieben. Er grinste und blies den Rauch seiner Zigarette zum Fernseher, dann zappte er weg und feuerte den »High Crusader« an, der seinen Gegner in die Ecke des Rings warf, ihn am Nacken packte, auf die Matte knallte und auf ihn draufsprang, dass die Bohlen krachten.
»Dieses Mädchen ist gemeingefährlich. Sie ist eine Gefahr für jeden unbescholtenen Bürger«, sagte Nicole Sorek. »Sie ist krank…«
Weil er sich nichts anmerken ließ, wussten Ira und Melanie nicht, was in ihm vorging. Mit verkniffenem Mund, damit kein Laut entwich, saß Christoph Arano in dem altmodischen Sessel des Pensionszimmers und weinte. Unaufhörlich rannen Tränen über sein Gesicht und immer, wenn er verschwommen und dennoch wie durch ein Vergrößerungsglas ein Bild seiner Tochter oder sie selbst im Fernsehen sah, schüttelte es ihn innerlich vor Trauer. Aber er ließ sich nichts anmerken. Wenn Lucys Name genannt wurde, hätte er am liebsten einen Schrei ausgestoßen, einen Schrei, um den Namen nicht hören zu müssen, den Namen des Menschen, an dem er Schuld hatte, immer neue Schuld.
»Es ist nicht unsere Aufgabe zu entscheiden, was weiter mit Lucy Arano geschehen soll«, sagte Nicole Sorek, »aber eines steht fest: Wird sie aus dem Gefängnis entlassen, müssen wir mit weiteren Verbrechen von ihr rechnen. Wie konnte aus einem vierzehnjährigen Mädchen so ein Mensch werden – wir wissen es nicht. Die Psychologin, mit der wir gesprochen haben, erwähnt den Tod von Lucys Mutter vor etwa vier Jahren. Aber auch andere Kinder verlieren durch Krankheit oder Unfall ihre Mutter, ihren Vater oder im schlimmsten Fall beide Eltern und werden trotzdem nicht zu Amokläufern. Und das ist Lucy Arano: eine Amokläuferin, die unkontrolliert und brutal ihren Weg geht und bisher von niemandem zu stoppen war. Sicher ist es ein Glück, dass sie hinter Gittern sitzt und wir dachten alle, hier kann sie
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