German Angst
dem zu tun, was Menschen zulassen. Wir sind eben so, wir träumen von der Überwindung aller Grenzen und errichten gleichzeitig ständig neue Grenzen. Die schützen uns, die tun uns auch gut, ohne diese Grenzen würden wir uns verirren, wir würden durchdrehen. Und Gesetze sind Grenzen, wir können sie nicht einfach niederreißen, nur weil unser Herz gerade übermütig ist und wir alle Menschen umarmen wollen.«
»Einer Ausweisung von Lucy Arano werde ich auf keinen Fall zustimmen«, sagte Roland Grote beim Abschied an der Treppe.
»Das ist wahrscheinlich ein Fehler.«
Nachdem Ronfeld einige Stufen hinuntergegangen war, drehte er sich noch einmal um. »Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle bewahrt die kindlich reine Seele.« Dann hob er lächelnd die Hand und setzte eilig seinen Weg fort.
»Leck mich am Arsch!«, sagte Grote und schlug gegen das Geländer.
Jetzt musste er vorbauen, vermutlich dauerte es keine drei Tage, bis die Presse von der geplanten Abschiebung der drei Jugendlichen erfuhr, und dann wäre er, nach langer Zeit wieder einmal, der Buhmann der Stadt. Er brauchte die Rückendeckung aus dem Rathaus und vor allem die Zusicherung, dass die vierzehnjährige Lucy Arano unter keinen Umständen für ein juristisches Spektakel missbraucht wurde, das er rassistisch, reaktionär und in höchstem Maß widerwärtig fand. Niederen Instinkten nachzugeben, das verachtete er, und was der Staatsanwalt als die höheren Ziele der Rechtssprechung pries, war für Grote nichts anderes als purer Populismus, Aburteilung und Vorverurteilung im Sinne dumpfer Stammtischweisheiten. Hallo, dachte er auf einmal in seinem Büro, kommt da der alte linke Roland noch mal zum Vorschein?
Animiert von sprudelnden Erinnerungen, wählte er die Nummer seines Freundes Ludwig Zehntner, von dem er nie gedacht hätte, dass er einmal ein Oberbürgermeister werden würde, den die Rechten genauso wählten wie die eigenen Leute. Im Grunde, fand Grote, besaßen sie beide allen notwendigen politischen Zwängen zum Trotz noch immer genügend innere Freiheit, um aufzustehen und sich zu widersetzen, wenn es sein musste. So wie jetzt.
»Der Herr Oberbürgermeister ist leider in einer Besprechung, Herr Grote«, sagte eine Frau am anderen Ende der Leitung.
»Ich ruf später noch mal an.«
»Später ist Stadtratssitzung und dann Podiumsdiskussion in Haidhausen.«
»Dann ruf ich morgen an.«
Aber am nächsten Tag war alles anders.
»Was bedeutet das? Aber warum?«, fragte sie. Sie war aufgesprungen, obwohl sie sich gerade erst hingesetzt hatte. Aus einem für sie selbst überraschenden Impuls war sie vom Stuhl hochgeschnellt und stand nun vor dem Schreibtisch. Ungläubig sah sie ihren Chef an, der zwei große weiße Pflaster im Gesicht und zwei kleinere auf den Händen hatte, und hielt den Karton mit den Süßigkeiten, den sie ihm schenken wollte, krampfhaft fest.
»Personalabbau«, sagte Jens Zischler. Er wippte mit dem rechten Bein und ihm war kalt. »Order der Firmenleitung, die hatten wohl irgendeine Prüfung, Sie kennen das ja schon, Nuriye, leider, so wie in der anderen Niederlassung, jetzt hat es eben unsere Filiale erwischt. Sie wissen, dass unser Unternehmen seine Mitarbeiter fördert, aber unbegrenzte Kapazitäten gibts halt nicht. Na ja, und wir haben ein paar Probleme mit dem Umsatz, haben Sie ja selber gemerkt.«
»Nein«, sagte sie.
»Es tut mir Leid. Sie kriegen ein tolles Zeugnis, das ist klar, ich war sehr zufrieden mit Ihnen und das hab ich Ihnen auch immer gesagt. Sie finden bestimmt schnell einen neuen Job.«
»Ich bin hier gerne«, sagte Nuriye.
»Ich kann nichts für Sie tun«, sagte Zischler und überlegte, ob er aufstehen und zu ihr hingehen solle. Er blieb sitzen. »Kommen Sie übermorgen, dann hab ich das Zeugnis fertig. Und, das hab ich noch gar nicht erwähnt, glaub ich, Sie kriegen bis Ende des Monats Ihr Geld, das ist doch gut…«
»Sie wollen keine Frau mit Kopftuch.«
»Nach mir geht es nicht, wir alle im Unternehmen haben nicht generell etwas gegen Kopftücher und wir wollen auch grundsätzlich nicht auf junge Damen wie Sie, die es mit der Religion ernst meinen, verzichten. Das wissen Sie. Diese Personalentscheidung ist völlig unabhängig von Ihrer Kleidung gefallen.«
»Was ist passiert, Herr Zischler?«
»Was meinen Sie?«
»Alles, der Überfall und jetzt die Entlassung, was ist passiert?«
»Das eine hat mit dem anderen doch gar nichts zu tun! Sie sind ja lustig! Das waren irgendwelche
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