Germania: Roman (German Edition)
von der zunehmenden Schrulligkeit des Alten nicht abschrecken ließ. Dass sie Ärztin war und eine gewisse Übung im Umgang mit schwierigen Menschen besaß, war ihr dabei zweifelsohne zugutegekommen. Von der Zeit davor wusste Oppenheimer lediglich, dass Hilde verheiratet war. Doch die Ehe verlief unglücklich und wurde bereits nach wenigen Jahren geschieden, woraufhin sie wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte.
Neben dem imposanten Wohnhaus gab es auf Hildes Anwesen noch zwei kleinere Gebäude, die der Onkel erst nachträglich errichtet hatte. Es handelte sich dabei um eine Garage und ein separates Haus für den Chauffeur. Da Hilde weder für ein Auto noch für einen Chauffeur Verwendung fand, hatte sie vor etwa zehn Jahren darin ihre Arztpraxis eingerichtet. Doch weil sie nach Ansicht der Nationalsozialisten über mehr als genügend Platz verfügte, wurden in den letzten Monaten im großen Wohnhaus ausgebombte Familien einquartiert. Daraufhin hatte sie kurzerhand ihre Sachen gepackt und war in ihre Arztpraxis umgezogen.
Oppenheimer registrierte mit Erleichterung, dass Hildes Grundstück den heutigen Angriff unbeschadet überstanden hatte. Wie üblich bog er in die kleine Seitengasse ein, wo er unbeobachtet das hintere Tor benutzen konnte. Er hatte sich schon oft gefragt, woher Hilde den Mut nahm, sich allein mit ihm zu treffen. Schließlich drohte ihnen ein Prozess wegen Rassenschande, wenn jemand herausbekam, dass Oppenheimer ein Jude war. Doch Hilde kümmerte sich nur selten um die Vorschriften der nationalsozialistischen Herrscher.
Als Oppenheimer auf Hildes Arztpraxis zusteuerte, torkelte ihm eine Frau entgegen, die vielleicht Anfang dreißig war. Kaum war sie bei ihm angelangt, als sie auch schon stolperte und sich an seinem Arm festkrallte.
»Huch!«, rief sie vergnügt. »Die Stufe war vorhin noch nich da.«
Soweit Oppenheimer erkennen konnte, war auch jetzt keine Stufe vorhanden.
»Jessas! Sagen Se nich, dasse’s von mir ham, aber das Zeugs von Ihrer Ärztin ist viiiiel besser als der Markenschnaps.« Nach dieser Bemerkung schwankte sie zum Gehweg hinüber. Oppenheimer war viel zu überrumpelt, um auf die Idee zu kommen, ihr behilflich zu sein. Stattdessen betätigte er die Türklingel.
Als sich unmittelbar darauf die Pforte öffnete, stand sie vor ihm. Obwohl Hilde um diese Zeit nicht auszugehen pflegte, war sie wie üblich dezent geschminkt und hatte ihr Haar tadellos onduliert. Zwar wurde ihr Körper mit fortschreitendem Alter allmählich plump, was sie mit der Wahl ihrer adretten Kleidung halbwegs kaschieren konnte, doch ihre würdevolle Erscheinung war nach wie vor vom Zahn der Zeit verschont geblieben. Jeder Zentimeter von Hilde machte dem Betrachter klar, dass hier eine Dame von Welt stand. Obschon sie in ihrem Leben bereits vieles erlebt hatte, weiteten sich bei Oppenheimers Anblick ihre Augen.
»Verfluchte Scheiße, du siehst wirklich zum Kotzen aus«, entfuhr es ihr.
3
Sonntag, 7. Mai 1944
Z u behaupten, dass Hilde wie ein Rohrspatz zu schimpfen pflegte, wäre eine grobe Untertreibung gewesen. Vielmehr ähnelten ihre verbalen Ausfälle eher denen eines vierschrötigen Matrosen. Oppenheimer wurde nervös. Unvermittelt hatte ihn die Misslichkeit seiner Lage wieder eingeholt. »Vielleicht kann ich in der nächsten Zeit nicht mehr vorbeikommen.«
Hilde hielt kurz inne, dann zog sie ihn hinein. »Leg erst mal ab.«
Mutlos betrat Oppenheimer das kleine Behandlungszimmer. Er hängte Hut und Jacke an die Garderobe und folgte dann Hilde durch eine weitere Tür in ihre höhlenartige Behausung. Dass im privaten Teil der Chauffeurswohnung praktisch jeder freie Zentimeter dazu genutzt wurde, um zahllose Bücher zu verstauen, machte sie nur noch enger. Sogar die Fenstersimse quollen von Papier über.
Es war keineswegs nur Fachliteratur zur Medizin, die sich hier türmte. Ein halbwegs literaturkundiger Nationalsozialist hätte in Hildes Wohnung wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen, denn ein Großteil ihrer Sammlung bestand aus Büchern, die seit einigen Jahren als undeutsch galten. Die Schriften von Kurt Tucholsky befanden sich in Nachbarschaft von Erich Maria Remarques Romanen, die Traktate von Karl Marx standen neben den wissenschaftlichen Werken Albert Einsteins, Kafka traf auf Hemingway, Kästner stand in trauter Eintracht neben Maxim Gorki – alles Bücher, die nationalsozialistische Studenten wenige Jahre zuvor auf dem Opernplatz in die Flammen der nächtlichen Scheiterhaufen
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