Germania: Roman (German Edition)
des Regierungsviertels, wieder zu neuen, bizarren Formen zusammenzufügen. Dies blieb der einzige Reim, den sich Oppenheimer zunächst auf dieses Bild machen konnte.
Vor ihm lag ein Hakenkreuz, doch es war keine abgerissene Fahne und keine Schmiererei mit dem Farbpinsel, die er dort sah. Das altbekannte Symbol für den Nationalsozialismus bestand diesmal aus einem fremdartigen Material, aus Knochen, Sehnen und Muskelfasern. Es war ein Hakenkreuz, geformt aus menschlichen Gliedmaßen.
»Zum Glück ist der Führer in Berchtesgaden«, murmelte der Kommandant. »Also machen Sie schnell Ihre Arbeit, damit wir den Scheiß hier wegräumen können.«
Vier Arme hatte der Mörder auf dem Boden arrangiert. Zwei davon waren bereits stark verwest. Oppenheimer wusste, dass es sich dabei um die Arme von Kittys Hure handeln musste. Von den anderen beiden Armen würde sich zweifellos herausstellen, dass sie Traudel Herrmann gehörten.
Oppenheimer fand seine Stimme wieder. »Die Fingerabdrücke?«
»Alles bereits erledigt«, fuhr der Kommandant dazwischen. »Photos haben wir auch schon. Haben die Herren sonst noch Wünsche?«
Oppenheimer schüttelte den Kopf. »Nein, ist gut.«
»Besten Dank«, erwiderte der Kommandant sarkastisch. Dann befahl er seinen Männern durch ein Kopfnicken, die Leichenteile zu entfernen. Oppenheimer betrat wieder den Gehweg und lehnte sich gegen einen der halbhohen Steinpfeiler. Obwohl er in dieser Nacht gut geschlafen hatte, fühlte er sich plötzlich zum Umfallen erschöpft. Er fischte eine Pervitin-Tablette aus dem Medikamentenröhrchen, schluckte sie und überlegte.
Dem Mörder war gelungen, was sonst selten geschah. Er hatte es geschafft, Oppenheimer zu schockieren. Nach den Ermittlungen im Fall Großmann hatte er gedacht, dass ihn so schnell nichts mehr beeindrucken könne, doch am heutigen Tag hatte sich das als eine Illusion herausgestellt.
Wenigstens war jetzt das Rätsel geklärt, was der Mörder mit den Armen der letzten beiden Opfer angestellt hatte. Er wollte keines seiner üblichen Schreiben aufsetzen, um an die Führerschaft der NSDAP zu appellieren, sondern er hatte sich stattdessen diese Überraschung ausgedacht, um für jeden ersichtlich zu demonstrieren, dass er ein Anhänger der Partei war.
Oppenheimer fragte sich, wohin das alles noch führen sollte. Einige Sekunden lehnte er sich mit geschlossenen Augen gegen den Steinpfeiler.
Als Oppenheimer seine Augen öffnete, fuhr er alarmiert zusammen. Er glaubte, auf der gegenüberliegenden Straßenseite etwas gesehen zu haben.
Bei der Kripo galt die alte Regel, dass ein Verbrecher immer zum Tatort zurückkehrt. Hilde hatte sich häufig darüber lustig gemacht, doch Oppenheimer wusste, dass diese Maxime den Tatsachen entsprach. Es gab verschiedene Gründe für dieses Verhalten. Manche Straftäter wollen sichergehen, dass sie ihre Spuren verwischt hatten, andere ergötzten sich an dem Schauspiel, das die Polizei veranstaltete, und fühlten sich in ihrer Überlegenheit bestätigt. Oppenheimer wusste, dass ihr Mörder auf Bestätigung aus war, seine Briefe machten dies nur allzu deutlich. Jetzt war er das vielleicht größte Risiko eingegangen, hatte Leichenteile hinterlassen, direkt unter der Nase der Leibstandarte, die nur wenige Meter entfernt den Eingang von Hitlers Kanzlei bewachte. Und das alles auch noch während eines schweren Bombardements, was perfiderweise zum Vorteil des Mörders gereichte, denn während es hier von Parteioffiziellen sonst nur so wimmelte, hatten sie sich alle zu Beginn des Angriffes in den Bunker verzogen. Der Mörder konnte somit unbeobachtet seinen Plan in die Realität umsetzen. Trotz allem hatte Oppenheimer nicht damit gerechnet, dass der Täter so waghalsig sein würde, den Fundort zu beobachten. Doch ein Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite genügte, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Als Oppenheimer seine Augen geöffnet hatte, schaute er direkt in das Gesicht des Scheusals.
Gegenüber der Reichskanzlei beobachteten einige Neugierige im Vorübergehen, was auf dem Hof vor sich ging. Aber die Präsenz der Leibstandarte schreckte sie ab. Jedoch in Richtung Wilhelmstraße stand eine Person vor dem Gebäude der Deutschen Reichsbahngesellschaft und blickte zu Oppenheimer herüber. Während um ihn herum die Leute weiterhasteten, schien der Mann alle Zeit der Welt zu besitzen, die Hände lässig in den Taschen seines Ledermantels und den Hut in die Stirn gezogen. Es war allerdings nicht die
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