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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Gilbers
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Bewegungslosigkeit des Mannes, die Oppenheimer als Erstes aufgefallen war. Es war sein höhnisches Grinsen und der auf Oppenheimer fixierte Blick, die nur einen Schluss zuließen: Der Mann wusste, was dort vor sich ging, wusste genau, welch grausigen Fund sie gerade gemacht hatten.
    Eine Energiewelle schoss durch Oppenheimers Körper. »Hauptsturmführer?«, rief er, doch Vogler war fort. Als er zurück auf die gegenüberliegende Straßenseite schaute, war auch der Mann verschwunden. Oppenheimer war zu sehr auf das Grinsen fixiert gewesen, um sich das Gesicht genau einzuprägen. Er durfte ihn nicht entwischen lassen.
    Eilig überquerte er die Straße. Der Fremde musste in Richtung Wilhelmstraße gegangen sein. Und tatsächlich sah er, dass sich ein Mann in etwa zweihundert Meter Distanz schnellen Schrittes vom Fundort entfernte. Die Jacke über dem Arm behinderte Oppenheimer bei der Verfolgung, also zog er sie hastig über.
    Der Mann schien bemerkt zu haben, dass ihn jemand verfolgte, doch er beschleunigte seine Schritte nicht. Er überquerte die Straße, passierte die Treppen zur U-Bahn-Station Kaiserhof und hielt schnurstracks auf die Mauerstraße zu. Oppenheimer registrierte den merkwürdigen Gang des Mannes. Obwohl er humpelte, hatte er keine Probleme, sich schnell fortzubewegen.
    Als sie den Zietenplatz entlanggingen, versuchte Oppenheimer, den Abstand zu verringern, doch die allgegenwärtigen Trümmer machten die Verfolgung nicht gerade einfach. Innerlich fluchend, stolperte er am zerstörten Hotel Kaiserhof vorbei. Aus der Geröllhalde reckten sich merkwürdige Gewächse der Sonne entgegen. Verbogene Stahlträger.
    Das Scheppern von Backsteinen. »Vorsicht!« Rechts von Oppenheimer wölbte sich ihm eine Steinwand entgegen und brach in sich zusammen.
    »Kieken Se doch hin, wo Se loofen!«, rief eine alte Frau mit zerfurchtem Gesicht durch die Staubwolke. Oppenheimer nickte ihr kurz zu. Er hatte keine Zeit, ihr zu antworten, da sich der Verfolgte diese Ablenkung zunutze gemacht hatte. Als Oppenheimer wieder zur Mauerstraße blickte, sah er gerade noch, wie der Mann um die Ecke verschwand.
    Oppenheimer begann zu rennen. Als er zu der Ecke gelangte, hatte der Mann bereits einen weiteren Haken geschlagen und lief schräg gegenüber hinter die Trümmer der Dreifaltigkeitskirche. Die Dachkuppel war von einer Bombe komplett weggefegt worden, leere Fensteröffnungen ragten in die Höhe. Als Oppenheimer das barocke Kirchenschiff umrundet hatte, nahm er in letzter Sekunde wahr, wie der Mann in die Kronenstraße einbog.
    Oppenheimer achtete nicht mehr darauf, was um ihn herum geschah. Er ignorierte die schaufelnden Ostarbeiter und die hupenden Löschfahrzeuge. Er hastete über die Straße, ein Hindernislauf inmitten von Menschen und Baumaterial. Er spürte, wie nahe die Lösung war. Er durfte diese Gelegenheit nicht verpatzen.
    Als Nächstes musste der Gejagte die Friedrichstraße überqueren. Sie war eine der Hauptachsen und verhältnismäßig breit, weswegen er hier keine Deckung fand. Also suchte der Mann im Ledermantel sein Heil darin, noch schneller zu laufen und die Kreuzung zur Leipziger Straße zu überqueren. Oppenheimers Mund wurde trocken. Der Staub und die Asche brannten in seinen Lungen. Seine Augen begannen zu tränen, denn in seiner Hast hatte er völlig vergessen, die Brille wieder aufzusetzen.
    Mit rasselndem Atem schaffte er es über die Leipziger Straße. Seine Beine wurden weich. Lange konnte er dieses Tempo nicht mehr mithalten.
    Der Mann war in ein eng bebautes Viertel gelaufen. Oppenheimer musste an der nächsten Kreuzung stehen bleiben, um sich zu orientieren. Verzweifelt blickte er rechts und links in die Winkel und Gassen. Er befürchtete schon, dass ihm der Mann entwischt war, als er ihn wieder erspähte. Auch dem Verfolgten schien die Puste ausgegangen zu sein. Er lehnte schwer atmend an einer Mauer, sein Vorsprung war geschrumpft. Oppenheimer wollte gerade wieder zum Laufen ansetzen, als ihn etwas festhielt.
    Irritiert blickte er hinab. Neben ihm stand ein Hitlerjunge in Uniform. Er war vielleicht gerade mal anderthalb Meter groß, und hielt ihm auffordernd eine Schaufel entgegen.
    »He, Jude!«, schrie er. Oppenheimer fuhr zusammen. Woran kann er mich nur erkannt haben? Dann wurde ihm bewusst, dass er nach dem Besuch von Frau Schlesinger vergessen hatte, den gelben Stern wieder von seiner Jacke zu entfernen. Er war mit dem Davidstern mitten durch Berlin gerannt.
    »Hilf die Steine

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