Germania: Roman (German Edition)
um ihn herum waren zu viele Schrecken, um sie nicht zu registrieren. Wohin er auch blickte, es fanden sich neue Details, jedes noch grauenvoller. Die Mutter, die ihr verkohltes Kind in den Luftschutzkoffer packte, um es mitzunehmen; der zerfetzte Körper, aus dem ein Stück Wirbelsäule herausragte, der Rest eingesunken in flüssigen Asphalt; die Leichen im offenen Schutzkeller, vom siedendem Wasser des Boilers gekocht; Gardinen aus Feuer, die aus leeren Fensteröffnungen schlugen; geröstete Menschenleiber, die die Lebenden aus leeren Augenhöhlen anstarrten, die braune Kruste der Haut bei manchen aufgeplatzt, die Münder weit aufgerissen zu einem lautlosen Schrei, der das Prasseln der Feuersbrunst nicht hatte übertönen können; die Arm- und Beinsehnen durch die Hitze angespannt, so dass die Extremitäten verkrümmt waren; die erkalteten schwarzen Lachen aus zerschmolzenem Körperfett, in denen die Toten lagen; der Geruch der verbrannten Kadaver.
Oppenheimer lief schneller, aber es gab kein Entrinnen vor diesen Sinneseindrücken. Doch er bemerkte noch etwas anderes. Während manche Wohnblöcke lichterloh in Flammen standen, hatten andere keinen Kratzer abbekommen, obwohl sie gleich daneben standen. Die Straßen waren zu breit, als dass sich das Feuer unkontrolliert hätte ausbreiten können. Berlin brannte schlecht, doch die schiere Anzahl der Treffer dieses Angriffes war mehr als ausreichend, um die Feuerwehr auf Trab zu halten.
In der Richtung des Stadtschlosses flackerten immer wieder einzelne Feuerzungen in den Himmel. Dort hatte es offensichtlich die meisten Treffer gegeben. Vogler führte Oppenheimer im Halbkreis um einen Bombentrichter voll schäumenden Wassers herum.
Plötzlich eine Detonation!
Eine Luftdruckwelle jagte durch die Straße, dann prasselten aus den schwarzen Wolken über ihnen Steine zu Boden. Vogler und Oppenheimer wichen zur Seite aus und suchten hinter einer Mauer Schutz. »Diese verdammten Zeitzünder!«, rief Vogler wutentbrannt. Niemand konnte wissen, wie viele Bomben hier noch lagen und darauf warteten hochzugehen, um Bergungstrupps, Ausgebombte und Brandbekämpfer in den Tod zu reißen.
Wenige Meter von ihnen entfernt stand ein verrußtes Drahtgeflecht, ein ehemaliger Kinderwagen. Oppenheimer wurde sich bei diesem Anblick schmerzhaft bewusst, dass selbst Hitlers Gegner bereit waren, ihre hehren Ideale einer zynischen Ratio zu opfern. Ihre Bomben konnten Nazis und Systemgegner nicht voneinander unterscheiden, ganz abgesehen von den Deutschen, die sich in keine dieser Kategorien einordnen ließen. Darüber, ob vor Gott alle Menschen gleich waren, ließ sich durchaus kontrovers diskutieren, doch in Bezug auf die Bomben gab es keinen Zweifel: Sie rissen jeden in den Tod. Die Frage, wie böse die Guten werden durften, wenn sie gegen das Böse kämpften, existierte für Oppenheimer nicht mehr. Terror wurde mit blankem Terror beantwortet.
Es dauerte eine Dreiviertelstunde, bis sie sich zur Reichskanzlei vorgekämpft hatten. Ein Mann in Uniform erwartete sie bereits. Es schien sich um den Kommandanten der Leibstandarte zu handeln, deren Aufgabe darin bestand, das Gebäude zu bewachen.
»Sind Sie dieser Vogler?«, rief er ihnen zu.
Vogler salutierte. »Hauptsturmführer Vogler zur Stelle!«
»Wird auch Zeit, dass Sie kommen«, sagte der Kommandant. »Wo haben Sie nur gesteckt?«
»Es war schwierig, durchzukommen«, erwiderte Vogler.
Als Antwort kam ein heiseres Lachen. »Ach nee. Nu machen Se mal voran, wir wollen die Spuren schnellstens beseitigen!«
Die neue Reichskanzlei bestand aus mehreren Gebäuden, die sich an der nördlichen Seite der Voßstraße entlangzogen. Zwischen der Kanzlei des Führers und der eigentlichen Reichskanzlei befand sich ein zurückgesetzter Mittelbau. Der Hof vor diesem Gebäudeteil wurde zum Gehweg hin durch eine halbhohe Steinbalustrade abgetrennt. Der Kommandant führte sie zum Durchgang am westlichen Ende. Genau in der Mitte des Hofes lag eine Plane auf dem Boden, bewacht von zwei Männern der Leibstandarte. Die Abdeckung hatte ein ungewöhnliches Format. Sie war fast quadratisch, vielleicht anderthalb mal anderthalb Meter groß, auf jeden Fall viel zu klein, um darunter einen Menschenkörper zu verbergen.
Ungläubig riss sich Oppenheimer die Motorradbrille vom Gesicht, als der Kommandant die Plane entfernt hatte. Offenbar war das menschliche Fleisch nicht nur verbrannt worden, es hatte sich verformt, war zerschmolzen, um sich hier, direkt im Herzen
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