Germania: Roman (German Edition)
hatte sich in letzter Zeit nicht mehr die Mühe gemacht, ihn tagtäglich wieder anzunähen.
»Oh, ein dummes Missverständnis«, log er. »Ich – der Mantel wurde gerade gereinigt. Da hatte ich völlig vergessen, den Stern wieder anzunähen.«
Frau Schlesinger blickte auf den verdreckten Mantel und verzog dabei vielsagend ihren Mund. »Na, dann war es ein Glück, dass niemand Sie erwischt hat. Ich weiß zwar nicht, wozu das Ganze, aber es ist besser, wenn unsereiner sich daran hält. Sonst gibt es nur Scherereien. Tragen Sie den Stern mit Stolz, Herr Oppenheimer. Mit Stolz.«
Um Frau Schlesinger zufriedenzustellen, nähte Oppenheimer den gelben Stern wieder an seinen Mantel, doch am liebsten hätte er sie hochkant aus der Küche hinausbefördert.
Diesmal hatte es keinen Voralarm gegeben. Um neun Uhr heulten plötzlich die Sirenen. Oppenheimer saß gerade im Beiwagen von Hoffmanns Motorrad und ließ sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die Kronprinzenallee entlangkutschieren.
Das Signal, das er trotz des lauten Knatterns hörte, war eindeutig. »Vollalarm«, flüsterte Oppenheimer. Das konnte nur bedeuten, dass aus dem Nichts Bomber aufgetaucht waren, die direkt Kurs auf Berlin nahmen.
Er blickte zu seinem Fahrer. Auch der hatte verstanden. Sie hatten noch knapp einen Kilometer zu fahren, um zur Kameradschaftssiedlung zu gelangen. Hoffmann presste seine Lippen zusammen und gab Gas.
Oppenheimer hatte geglaubt, dass Hoffmann bereits die ganze Zeit über mit Vollgas durch die Stadt geprescht war, doch weit gefehlt. Die erneute Beschleunigung presste ihn in den Sitz. Hoffmann kurvte sportlich um die Schuttberge herum, die sich hier und da auf der Fahrbahn befanden. Die Schlaglöcher in der Straße hingegen waren von weitem wesentlich schlechter zu erkennen, zumal aus der Perspektive des Beifahrers. Meistens bemerkte Oppenheimer erst, dass sie sich einem Krater näherten, wenn Hoffmann den Lenker abrupt herumriss und eine weitere Schlangenlinie fuhr, ohne das Tempo zu verringern. Oppenheimer überlegte, ob es nicht sicherer war, einfach irgendwo am Straßenrand im stillen Gottvertrauen auf den Bombenhagel zu warten, anstatt, wie auf einer Abschussrampe sitzend, Hoffmanns Fahrkünsten ausgeliefert zu sein.
Die letzten Tage über hatte die Reichshauptstadt Glück gehabt. Nachdem Hitlers Vergeltungswaffe in London eingeschlagen war, hatten die Berliner auf den großen Gegenschlag der Briten gewartet. Zwar hatte es seitdem immer wieder Alarm gegeben, doch der große Angriff war ausgeblieben. Oppenheimer fand die Alarme mittlerweile eher lästig als bedrohlich. Außerdem war er oft derart in die Untersuchungsergebnisse vertieft, dass er die Sirenen kaum noch wahrnahm.
Mit ein wenig Mühe gelang es Oppenheimer, nach oben zu spähen. Er glaubte, ein feindseliges Brummen zu vernehmen, und wollte die Quelle lokalisieren. Doch bei jeder Lenkbewegung von Hoffmann richtete er seinen Blick aus schierem Selbsterhaltungstrieb wieder auf die Straße. Schließlich kam eine Strecke, die in einem passablen Zustand war.
Als Oppenheimer sich endlich umdrehen konnte, erstarrte er. Hinter ihnen war der Himmel übersät mit dunklen Punkten, die weiße Kondensstreifen hinter sich herzogen. Sie hielten direkt auf die Innenstadt zu. Heute hatte sich das Blatt gewendet. Dies hier war zweifellos der große Vergeltungsangriff.
Plötzlich brüllte Oppenheimer seinen Fahrer an: »Nun drücken Sie schon auf die Tube, Mann!«
Obwohl die Kameradschaftssiedlung verschont geblieben war, ahnte Oppenheimer, dass woanders in der Stadt Schlimmes passiert sein musste.
Sie hatten Stunden im Keller verbracht und voller Unruhe abgewartet. Der Funker lauschte angestrengt in seinen Kopfhörer, während Vogler mit verschränkten Armen auf dem Stuhl saß. Auch Oppenheimer fiel nichts Sinnvolles ein. Er dachte an Lisa. Was war mit ihr geschehen? Heute Morgen hatte er sie noch gesehen. Wenn er sich recht entsann, dann hatte sie diese Woche Frühschicht. Das hieß, dass sie zu Beginn des Angriffs bereits in der Arbeit gewesen sein musste.
Als um Viertel nach eins die Sirenen Entwarnung jaulten, empfingen sie einen Funkspruch. Der Funker reichte Vogler den Kopfhörer. »Hauptsturmführer Vogler«, meldete er sich. Selbst auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes konnte Oppenheimer das undeutliche Krächzen aus dem Kopfhörer vernehmen. Am anderen Ende der Verbindung schien jemand lauthals zu brüllen. Was immer es für eine Nachricht war, auf
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