Germania: Roman (German Edition)
klammerte er sich daran. Als er über die Brüstung geworfen wurde, umschlangen seine Arme den Handlauf des Geländers.
Hilflos hing er über der Tiefe. Ein zähes Ringen folgte. Der Mann mit der Gasmaske versuchte, Oppenheimers Griff zu lösen. Verzweifelt hielt dieser sich fest. Er wusste nicht, wie viele Meter es unter ihm in die Tiefe ging, wie lange er fallen würde, bevor er auf dem Boden aufschlug. Er griff nach dem Angreifer, klammerte sich mit der Rechten in dessen Jacke fest, doch wegen des Geländers war es schwierig, den Mann zu sich heranzuziehen. Aber vielleicht konnte er es schaffen, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wenn der Angreifer nicht losließ, würden sie zusammen in die Tiefe stürzen. Oppenheimer war fest entschlossen, dass der Gegner für seinen Sieg teuer bezahlen sollte.
Bei dem Kräftemessen entging Oppenheimer die schrille Stimme, die von unten rief. Er spürte, wie sein Gegner von ihm abließ, zurück ins Zimmer hastete und die Tür hinter sich zuschlug.
Auf den Stufen erklang das Getrappel Dutzender Füße, doch Oppenheimer schenkte dem keine Aufmerksamkeit. Mit letzter Kraft zog er sich über das Geländer, und endlich spürte er wieder festen Boden unter seinen Füßen. Doch es blieb keine Zeit, erleichtert zu sein. Mit einem Sprung riss er die Tür auf, durch die sein Gegner verschwunden war, und hätte fast den Abgrund übersehen, auf den er sich zubewegte.
Oppenheimer befand sich in einer Wohnung oder vielmehr in dem kläglichen Überrest einer solchen. Wind schlug ihm ins Gesicht. Die aufgerissene Fassade erlaubte indiskrete Blicke auf die gestreiften Tapeten. Von dem Raum war nur noch ein schmaler Sims übrig, in dessen Ecke ein vergessener Sessel der Witterung ausgesetzt war. Eine Sprengbombe hatte den übrigen Teil der Wohnung zerstört.
Vorsichtig lugte Oppenheimer über den bröckelnden Rand. Dort unten war er. Wenige Meter von ihm entfernt sah er die Gasmaske. Umständlich hangelte sich der Mann an der Bruchstelle der Fassade nach unten. Oppenheimer wusste, dass er auf der Treppe schneller nach unten gelangen würde. Er wirbelte herum, war schon wieder zurück auf dem Treppenabsatz, als er in eine Schar von Halbwüchsigen lief.
»Das ist der Jude!«, schrie der Junge von vorhin und zeigte auf Oppenheimer. Hände ergriffen ihn. Verzweifelt versuchte er, sich loszureißen, doch Widerstand gegen diese Gruppe von Jungen war zwecklos. Sie waren alle gleich gekleidet: schmale Lederträger spannten sich quer über der Brust, eine Spange anstatt eines Krawattenknotens hielt unter dem Adamsapfel das Halstuch zusammen, Schulterstücke waren an den Hemden aufgenäht – Oppenheimer war mitten in eine Horde von Hitlerjungen geraten.
»Der da hat mich geschlagen und ist weggelaufen!«, ereiferte sich der Knabe. »Das können wir uns von einem Juden nicht gefallen lassen!«
Auch die anderen Jungen waren in heller Aufregung.
»Heini, was hat der hier nur verloren?«, fragte einer.
Der Hitlerjunge, den Oppenheimer geohrfeigt hatte, war um eine rasche Antwort nicht verlegen. »Der ist sicher ein Spion. Gibt den Engländern Koordinaten durch und so weiter.«
Von den übrigen Hitlerjungen kamen weitere Unmutsbekundungen. Oppenheimer war zwischen ihnen eingezwängt. Er spürte, wie die Situation außer Kontrolle geriet. Beschwichtigend sagte er: »Redet mit SS-Hauptsturmführer Vogler, der kann alles aufklären.«
»Das ist sicher ein Trick«, meinte ein vielleicht dreizehnjähriger Junge. »Die SS hätte den doch schon längst weggesperrt.«
Oppenheimer war am Verzweifeln. »Ihr versteht nicht, ich arbeite für den Hauptsturmführer. Draußen läuft ein Mörder frei herum. Er wird entkommen, wenn ihr mich nicht loslasst.«
Der Hitlerjunge namens Heini lächelte höhnisch. »So einer wie du arbeitet nicht für die SS«, erklärte er kategorisch. Der sommersprossige Junge funkelte ihn feindselig an. Er zog etwas hervor und hielt es Oppenheimer unter die Nase. Es war ein Messer, wie es jeder Hitlerjunge bei sich trug. »Du kommst nicht davon. Da kannst du noch so viel betteln.« Erst drängte er Oppenheimer gegen die Wand, dann fragte er seine Kameraden: »Also, was sollen wir mit ihm anstellen?«
»Wir sollten ihm einen Genickschuss verpassen«, rief sein Nebenmann.
»Aufknüpfen!«, meinte ein anderer.
Ein schmächtiger Junge widersprach. »Ach nee, Jürgen. Wir können den doch nicht so einfach töten.«
»Warum denn nicht?«
Eine Antwort schien dem schmächtigen
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