Germania: Roman (German Edition)
Jungen nicht einzufallen. Unzufrieden zuckte er mit den Schultern. »Ich weiß nicht«, sagte er schließlich mit einem Seufzer.
Heinis Messerspitze näherte sich bedrohlich Oppenheimers Hals. Das Blitzen in seinen Augen verriet, dass dem Jungen bewusst war, welche Macht er plötzlich besaß. Oppenheimer erkannte den sadistischen Impuls in Heinis Blick. Der halb geöffnete Mund vor ihm war verzerrt.
»Du hast gehört, wir müssen dich bestrafen«, zischte Heini. Dann befahl er: »Runter mit ihm. Da vorn ist eine Straßenlaterne.«
»Das könnt ihr doch nicht machen!«, protestierte Oppenheimer. Umsonst. Schon nahmen ihn die Jungen in die Mitte und polterten die Treppe hinunter. Oppenheimer wusste nicht, wie ihm geschah.
Sie blieben auf dem Gehweg stehen. Zwei der Jungen verdrehten ihm die Arme auf den Rücken und hielten ihn fest, während Heini mit dem gezückten Messer vor ihm umherstolzierte. »Hat jemand einen Strick?«
»Wo solln wir eenen Strick herhaben?«, fragte einer der Jungen.
»Detlefs Vater hat doch’n Kurzwarenladen!«
Heini wog diese Alternative ab. Dann erklärte er: »Keinen Zweck. Das dauert zu lange. Dann stechen wir ihn eben ab.«
Der schmächtige Junge räusperte sich wieder. »Wir können doch nicht jemanden töten.«
Genervt schloss Heini seine Augen. Dann drückte er dem Schmächtigen seine Klinge in die Hand. »Also gut. Du tust es, Götz. Das ist ein Befehl.«
Entsetzt schaute Götz Heini an, dann das Messer, das er in seiner Hand hielt. Er atmete schwer, schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht«, sagte er mit erstickter Stimme.
Die Jungen waren still. Heini trat dicht an Götz heran. »Du wirst doch wohl nicht kneifen?«
»Aber einfach so einen Menschen …«, begann er.
Heini unterbrach ihn. »Der ist kein richtiger Mensch. Das is’n Jude. «
Langsam hob Götz das Messer hoch. Seine Hand zitterte. Zweifel stand in seinem Gesicht, doch er wagte es nicht mehr, zu widersprechen. Alle blickten nur auf ihn.
»Nu mach schon, oder bist du ein Feigling?«, flüsterte Heini.
Götz schaute Oppenheimer starr an. Dann machte er zögernd einen Schritt vorwärts, dann den nächsten. Er war nur noch wenige Zentimeter von Oppenheimer entfernt. Er winkelte seinen Arm an.
Oppenheimers erster Instinkt war, um Hilfe zu rufen. Doch er war sich sicher, dass ihn niemand retten würde. Er spannte seine Armmuskulatur an, aber die beiden Jungen hinter seinem Rücken hielten ihn verbissen fest.
Jetzt war Götz so nahe, dass Oppenheimer seinen Atem hören konnte. Tränen sammelten sich in den Augen des Jungen.
»Du siehst doch, was unsere Feinde hier angestellt haben«, flüsterte Heini. »Der da ist schuld daran.«
Plötzlich presste Götz seine Lippen entschlossen zusammen. Das Mitleid in seinem Gesicht war verschwunden. Er holte aus. Oppenheimer erkannte, dass der Junge bereit war, ihm den Todesstoß zu versetzen.
»Halt!« Der Ruf war von weiter hinten gekommen. Eine tiefe Stimme, ein Erwachsener.
Götz hielt inne und drehte sich um. Auch Oppenheimer blickte auf. »Gut gemacht, Jungens!« Vogler näherte sich. »Wir haben ihn bereits gesucht. Ich nehme ihn in Verwahrung.«
Die Hitlerjungen salutierten. Nur Götz stand immer noch mit dem Messer vor Oppenheimer. Er ließ seinen Arm sinken, die Anspannung war aus seinem Körper gewichen. Er wirkte nicht erleichtert, sondern eher verwirrt. Mit einem verlegenen Schulterzucken gab er das Messer an Heini zurück. Dann salutierte auch er vor Vogler.
»Ihr habt mir sehr geholfen«, lobte Vogler die Jungen. »Ich werde euch für eine Belohnung vorschlagen.«
Voller Stolz strahlten die Hitlerjungen über das Lob.
»Haben Sie sein Gesicht gesehen?«, wollte Vogler wissen. Sie saßen in einem Konferenzraum der Reichskanzlei.
»Nur ganz kurz«, erwiderte Oppenheimer. »Ich könnte ihn nicht genau beschreiben. Ich habe nur seine beiden Augen gesehen, und schon war er weg. Als er mich überwältigen wollte, hatte er eine Gasmaske aufgesetzt.«
Vogler stutzte. »Eine Gasmaske?«
»Ja, aber kein aktuelles Modell. Solche Masken hat man damals im Ersten Weltkrieg getragen. Eigentlich sind sie zu nichts mehr nutze. Für diese alten Dinger kriegt man längst keine Filter mehr.«
»Was will er dann damit? Warum trägt er eine Gasmaske, die nicht mehr funktioniert?«
»Keine Ahnung. Vielleicht wollte er sich nur unkenntlich machen. Oder das Ding hat einen ideellen Wert für ihn. Wir haben ja schon festgestellt, dass es eine Verbindung zum Ersten
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