Germania: Roman (German Edition)
interpretierte. Fräulein Behringer schien nicht erfreut über diese Ankündigung zu sein. Trotzdem blieb sie freundlich. »Ich nehme an, es ist dringend?«
»Ich glaube, dass wir eine Spur haben. Je früher ich in Erfahrung bringen kann, ob sie heiß ist, umso besser.«
Ein kurzes Zögern. »Bis sieben Uhr finden Sie mich hier im Büro, Herr Kommissar.«
Oppenheimer ging zur Garderobe und schlüpfte in seine Jacke. Er hatte keine Zeit zu verlieren. »Wo steckt Hoffmann?«, brüllte er in den Keller hinunter. Ohne Voglers Antwort abzuwarten, öffnete er die Haustür.
Plötzlich hörte er das metallische Klicken eines Koppelschlosses. Doch er reagierte zu spät, hatte die Tür bereits weit geöffnet. Von draußen starrten ihm zwei Gewehrläufe entgegen.
Instinktiv machte Oppenheimer einen Schritt zurück, doch die beiden SS-Männer folgten ihm und behielten ihn mit routinierter Präzision im Visier. Ein Mann in Zivilkleidung trat in sein Blickfeld. Er schien die beiden SS-Männer zu befehligen. In seiner Hand blinkte es kurz auf, als er Oppenheimer eine Metallplakette zeigte. Auch ohne sie zu lesen, wusste Oppenheimer, dass auf der Marke die Beschriftung GEHEIME STAATSPOLIZEI und eine Nummer eingeprägt war. Ein Mann von der Gestapo. Wollte er ihn in Schutzhaft nehmen? Ihn ins Konzentrationslager stecken?
»Herr Oppenheimer, nehme ich an?«
Oppenheimer musste schlucken, bevor er nickte. Auch Vogler schien etwas gehört zu haben. »Was ist denn los?«, rief er, während er die Treppe heraufkam. Als Vogler die Männer erblickte, knallte er seine Hacken zusammen und salutierte. »Hauptsturmführer Vogler!«
Der Gestapo-Mann schaute von einem zum anderen. Oppenheimer fragte sich, ob er im Gesicht des Beamten tatsächlich einen kurzen Anflug von Amüsement gesehen hatte. »Beide mitkommen«, befahl er.
Zu widersprechen hatte keinen Sinn.
23
Donnerstag, 22. Juni 1944 – Freitag, 23. Juni 1944
S orgenvoll starrte Oppenheimer an die nackte Steinwand. Sie warteten jetzt bereits seit zwei Stunden. Auch Vogler saß verloren auf seinem Stuhl und schaute trüb vor sich hin. Wenn die Warterei dazu dienen sollte, sie einzuschüchtern, dann hatte diese Strategie ihren Zweck erfüllt.
Wenigstens wusste Oppenheimer, wo sie sich befanden. Allerdings trug diese Information kaum dazu bei, ihn zu beruhigen. Bei der Fahrt in der schwarzen Limousine hatte er wegen der zugezogenen Sichtblenden nicht viel erkennen können. Doch als sie ausstiegen, war ihm die Gegend bekannt vorgekommen. Erst gestern hatten sie wenige Meter von hier entfernt die Leichenteile inspiziert. Sie waren wieder im Regierungsviertel. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag die zerbombte alte Reichskanzlei, also befanden sie sich in der Wilhelmstraße. Das Gebäude, in das sie gebracht worden waren, hatte eine klobige graue Fassade. Rechts neben den großen Türen war ein Pfeiler in die Häuserfront eingelassen, hoch oben umkrallte ein steinerner Adler mit seinen Klauen das Hakenkreuz. Dies hatte Oppenheimers Verdacht bestätigt. Man hatte sie ins Promi gebracht, ins Propagandaministerium.
Hier in diesem Gebäude zog der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, höchstpersönlich die Fäden, befahl den Zeitungen, was sie zu drucken hatten, nahm die aktuellen Wochenschauen ab, bevor sie noch im kleinsten Dorf über die Leinwände flimmerten. Von hier aus bediente er eine riesige Gedankenfabrik. Alles, was in die Köpfe der Volksgenossen gelangen sollte, wurde hier vorgedacht, zensiert, zurechtgestutzt. Oppenheimer war sich jedoch völlig im Unklaren darüber, was dies alles mit ihrer Untersuchung zu tun hatte.
Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl herum. Hinter der Tür waren gedämpfte Schritte zu hören, die Klinke wurde heruntergedrückt, und ein junger Mann mit adrettem Seitenscheitel blickte zu ihnen in den Raum. »Ah, da sind Sie ja!«, sagte er und zog die Dokumentenmappe zu Rate. Er notierte etwas, klappte die Mappe wieder zu und steckte den Bleistift hinter sein rechtes Ohr. »Wenn Sie mir bitte folgen würden«, bat er höflich und hielt ihnen die Tür auf. Oppenheimer und Vogler blickten sich kurz an.
Der junge Mann schritt voraus. Er führte sie in ein weitläufiges Treppenhaus. Jeder ihrer Schritte wurde von Dutzenden anderer Phantomschritte beantwortet. Die nüchterne Umgebung machte klar, dass hier eine kühle Ratio regierte. Oppenheimer war nicht unbeeindruckt von der Architektur, gleichzeitig fühlte er
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