Germania: Roman (German Edition)
sah das Gebäude wie ein normales Wohnhaus aus. Zwar waren die Zimmer nicht sonderlich groß, doch Oppenheimer erschienen sie im Vergleich zu seiner derzeitigen Behausung riesig.
»Legen Sie ab. Was kann ich anbieten? Kaffee? Cognac? Champagner?« Vogler erwähnte diese Kostbarkeiten mit einer Beiläufigkeit, die Oppenheimer schon lange nicht mehr gehört hatte, wenn es um Lebensmittel oder gar Spirituosen ging. Er nahm seinen Hut ab und brachte nur verblüfft »Kaffee« heraus.
»Machen Sie es sich bequem«, sagte der Hauptsturmführer und wies in Richtung des Wohnzimmers. Das Haus war komplett eingerichtet, doch auf den zweiten Blick wirkte es wie eine leere Hülle. Die Glasvitrinen und Regale im Wohnzimmer waren inhaltslos, nirgends ließen sich persönliche Gegenstände entdecken. Nur das sonore Ticken der Wanduhr gliederte die Stille in Sekunden. Vogler erschien wieder, eine Kaffeetasse in der Hand.
»Wer wohnt hier?«, fragte Oppenheimer.
»Wir«, antwortete Vogler und zündete eine Zigarette an. »Zumindest, bis der Fall geklärt ist. Sie haben dieses Zimmer zur Verfügung, als Büro sozusagen. Telefon und Funkgerät befinden sich im Keller. Dort ist auch ein Funker in ständiger Bereitschaft, wenn ich nicht anwesend bin.«
Oppenheimer nickte nur und setzte sich in den erstbesten Sessel. Er fand plötzlich, dass Vogler in seiner Uniform und mit seiner aufrechten Haltung einen merkwürdigen Kontrast zu der geblümten Tapete des Wohnzimmers bildete. Oppenheimer nippte an dem dunklen Gebräu, um sich zu vergewissern, ob es richtiger Bohnenkaffee war. Natürlich war es das, seine Nase hatte ihn nicht getrogen.
»Haben Sie schon Fortschritte mit der Identifizierung der Leiche gemacht?«
»Ich fürchte, nein. Meine Leute sitzen immer noch daran. Was denken Sie, was sollten wir tun?«
»Solange wir nicht wissen, wer die Tote ist, gibt es wenig Anhaltspunkte. Wir können allenfalls überprüfen, ob es sich beim Täter um einen Leichenschänder handelt. Am besten kontaktieren Sie dazu die Leichenidentifizierungskommandos der Kriminalreviere. Mir werden sie wohl keine Auskunft erteilen. Fragen Sie nach verschwundenen Leichen oder ähnlichen Unregelmäßigkeiten. Ich werde mir die Friedhöfe vornehmen.«
Vogler blickte ihn überrascht an. »Wollen Sie etwa alle Berliner Friedhöfe abklappern?«
»Zumindest so lange, bis wir vernünftige Hinweise haben. Ich werde mich von Oberschöneweide in Richtung Innenstadt vorarbeiten. Vielleicht haben wir ja Glück.«
»Sehr gut, dann machen wir das so«, sagte Vogler und stemmte seine Hände in die Hüften. »Jeden Morgen um acht treffen wir uns hier zur Lagebesprechung. Sonst noch Fragen?«
»Nein«, sagte Oppenheimer, obwohl ihn unzählige Fragen beschäftigten.
Verdrossen trottete Oppenheimer über den Kiesweg. Der Friedhofsverwalter musste hier irgendwo auf dem Gelände sein, doch Genaueres hatte man ihm im Büro leider nicht sagen können. Der hellgraue Himmel tat seinen Augen weh, es war ein Gefühl, als wolle sein Kopf zerbersten. Vielleicht bahnte sich eine Erkältung an. Oppenheimers Hand glitt reflexartig in die Innentasche seines Mantels. Er wollte eine Pervitin-Tablette nehmen, um den Tag zu überstehen, doch nach langem Überlegen entschied er sich dagegen, denn es befanden sich nur noch ein gutes Dutzend Tabletten in dem Röhrchen. Dies waren seine letzten, und er hatte keine Ahnung, wie er an neue gelangen sollte. Es war nicht mehr so einfach, Pervitin aufzutreiben. Ohne Rezept war da nichts zu machen, und Hilde wollte er damit nicht behelligen. Vielleicht wusste Dr. Klein eine Lösung.
Hoffmann ging wenige Schritte hinter ihm, die Motorradbrille hing verwegen auf dem Schirm seiner Schlagmütze. Mittlerweile waren sie beide auf ein Kraftrad umgestiegen, die ideale Art, um sich in der Stadt fortzubewegen, auch wenn sich Oppenheimer jedes Mal umständlich in den Beiwagen zwängen musste. Das Gefährt war wendig genug, um die Schutthaufen und Bombentrichter zu umfahren, die unvermittelt aufzutauchen pflegten. Trotz allem hätte sich Oppenheimer gelegentlich eher ein Auto gewünscht oder zumindest einen anderen Fahrer. In ihm keimte der Verdacht, dass Hoffmann seine Anweisung, dass er zum Friedhof wolle, falsch interpretiert hatte, denn dieser bretterte daraufhin dermaßen halsbrecherisch über die Piste, dass Oppenheimer mehr als ein Mal das Herz stehenblieb, während er mit der einen Hand krampfhaft seinen Hut umklammert hielt und sich mit der anderen
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