Germania: Roman (German Edition)
letzte Satz immer wieder durch den Kopf, bis sich Lisa schließlich auf die Seite drehte, um sich an ihn zu kuscheln.
Unwillkürlich kamen ihm dabei die Geschehnisse des letzten Jahres in den Sinn, als die SS lang vor der Morgendämmerung mit großen Lastautos gekommen war. Mit vorgehaltener Waffe hatten sie Oppenheimer und andere Männer auf die Ladefläche getrieben, weil das Deutsche Reich innerhalb von sechs Wochen judenrein sein sollte. An diesem Morgen hatten sie alle sogenannten arisch versippten Juden aus ganz Berlin wie Schlachtvieh in ein provisorisches Zwischenlager gepfercht, das an der Rosenstraße lag. Doch während sie dort warteten, hatte sich draußen bereits eine Menschenmenge versammelt. Es war eine Mahnwache der Ehefrauen, die etwas Unerhörtes taten, etwas, das sich kaum ein Volksgenosse traute: Sie hielten nicht mehr still, sondern demonstrierten öffentlich ihren Unwillen. Auch Lisa hatte vor der Tür des Hauses gestanden und der Kälte der Märznächte getrotzt, um Oppenheimer unversehrt wieder in die Arme schließen zu können. Die Menge der Frauen war immer größer geworden, bis der stete Andrang vor den Mauern des Lagers nicht mehr zu ignorieren war. Und der NS-Staat war daraufhin tatsächlich eingeknickt und hatte Oppenheimer und die übrigen Gefangenen kommentarlos wieder freigelassen.
Und nun hatte sich Lisa an Oppenheimer geschmiegt, ganz so, als ob er sie schützen könnte. Dabei verhielt sich die Sache doch genau umgekehrt. Er fragte sich, womit er diese Liebe verdient hatte, denn Oppenheimer wusste, dass sein größter Fehler war, Lisa nicht vor dem ganzen Wahnsinn behüten zu können. In diesem Moment kam er sich wie ein Hochstapler vor.
Als Oppenheimer in den frühen Morgenstunden aus dem Auto stieg, konnte er den Anblick zunächst nicht einordnen. Die Bäume an diesem Ort waren keinesfalls zu verwechseln mit ihren domestizierten Artgenossen in den Parkanlagen. Wo Oppenheimer jetzt stand, umfing ihn tiefer, undurchdringlicher, urdeutscher Wald.
Genau wie mit Vogler abgemacht, war um sieben Uhr der Fahrer erschienen, um ihn abzuholen. Oppenheimer ging davon aus, dass er von seinem Begleiter, der sich lediglich mit dem Familiennamen Hoffmann vorstellte, auch gleichzeitig überwacht werden sollte. Doch angesichts der Freude darüber, dass er sich in den nächsten Tagen komfortabler als gewohnt durch die Stadt bewegen konnte, war ihm das ziemlich egal. Hoffmann hatte den Auftrag, Oppenheimer jeden Morgen zunächst zur Einsatzzentrale zu bringen, von der aus Vogler seine Bemühungen koordinierte, den Täter zu ergreifen. Doch stattdessen stand Oppenheimer jetzt inmitten eines Kindermärchens.
Er vermochte nicht zu unterscheiden, ob das Geräusch in der Luft noch der Verkehrslärm der Großstadt war oder bereits das Rauschen des Waldes. Um ihn herum roch es nach Moos und Kiefernnadeln, das Licht verlor sich in den Wipfeln hoher Bäume, so dass in dem Wald ein angenehmes Zwielicht herrschte, das nur hier und da von einzelnen Lichtstrahlen durchbrochen wurde. Erinnerungen an seine Kindheit wurden wach, als ihm seine Mutter von Hänsel und Gretel und dem Hexenhäuschen vorgelesen hatte. Auch hier erblickte er Hexenhäuschen, jedoch nicht nur ein einziges, wie bei den Gebrüdern Grimm, sondern mehrere, die in gediegener Kleinbürgerlichkeit in Reih und Glied aneinandergereiht waren. Die Häuser waren keineswegs luxuriös oder besonders groß, die Satteldächer waren ziegelgedeckt, die Gauben mit dunklem Holz verkleidet, die Sprossenfenster wurden von großen Fensterläden flankiert.
Direkt hinter der Einfahrt an der Argentinischen Allee war Hoffmann abgebogen und hatte das Auto Am Vierling in einer Wendeschleife abgestellt. Es schien Oppenheimer fast absurd, dass die schmalen Straßen in dieser wilden Natur einen Namen besaßen.
Er füllte seine Lungen mit der würzigen Luft und blickte in die Zweige hinauf. Er konnte sich vorstellen, dass so mancher selbst vor Mord und Totschlag nicht zurückgeschreckt hätte, um ein Haus in dieser exklusiven Lage zu besitzen. Schließlich waren sie hier im Südwesten Berlins, ganz in der Nähe des Grunewalds. Noch konnte Oppenheimer nicht ahnen, dass dieser Gedanke geradezu prophetisch war.
Hoffmann zeigte auf den nächstgelegenen Hauseingang und sagte: »Dort. Einfach klingeln.«
Noch bevor Oppenheimer die Tür erreichte, wurde sie bereits geöffnet. Auf der Schwelle erwartete ihn Vogler in seiner Uniform und winkte ihn herein.
Auch im Inneren
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