Germania: Roman (German Edition)
wenig. Stattdessen beobachtete Oppenheimer seinen Mitbewohner. In den letzten Tagen war der Doktor von einer ungewöhnlichen Betriebsamkeit erfasst worden. Womöglich seine Art, über den Tod seiner Frau hinwegzukommen. Oppenheimer überlegte, wie Dr. Klein reagieren würde, sobald er sich wieder beruhigt hatte und der Realität ins Auge sah.
»Dort unten hat man nur noch Aschleichen gefunden«, erklärte Klein und zeigte in den zerstörten Keller. »Keine Ahnung, wie viele es waren. Der Angriff kam so plötzlich, sie hätten keine Zeit mehr gehabt, es noch bis zum Zoo-Bunker zu schaffen.«
Oppenheimer hörte, wie ein Raunen durch die Menschen ging. Klein blickte über seine Schulter. »Ah, es hat sich wohl herumgesprochen, dass die Verpflegungsstelle jetzt geöffnet ist. Sie haben Bohnenkaffee versprochen. Interessant zu sehen, wie schnell die Leute rennen können, wenn es was zu holen gibt.«
Lisa und Oppenheimer blickten sich an. Die verlockende Aussicht auf Bohnenkaffee ließ sie mit dem Gedanken spielen, sich ebenfalls in Gang zu setzen. Doch zumindest für Oppenheimer war es aussichtslos, sich etwas erbetteln zu wollen – es fand sich immer jemand aus der Nachbarschaft, der ihn als Bewohner des Judenhauses verpetzen würde. Nur Klein stand da wie ein Fels in der Brandung. Mit seinen Geheimvorräten an Lebensmitteln fiel es ihm leicht, die Ruhe zu bewahren.
Entsetzt wachte Oppenheimer auf. Etwas umschlang ihn. Er hatte es sich nicht eingebildet. Ein Arm. Obwohl es kühl war, stand Schweiß auf seiner Stirn. Reste eines Traums schwirrten ihm durch den Kopf. Er erinnerte sich daran, dass er in einem Meer aus abgetrennten Gliedern geschwommen war, dass er auf eine Insel zusteuerte, die sich als knochenzermalmender Mund entpuppt hatte. Bei dem Gedanken fuhr er hoch und wagte kaum, sich umzublicken.
Im schwachen Schimmer der Glühbirne erkannte Oppenheimer den Ort wieder. Das Bergwerk im Keller. Er war also im Bunker und lag am Boden auf seinem angestammten Platz. Der Arm, der auf seinem ruhte, war der von Lisa.
Weiter hinten lag die alte Schlesinger. Er erkannte ihre Jacke, die einstmals rot gewesen sein mochte. Ihre tiefen Atemzüge verrieten, dass sie schlief. Unweit daneben lagen auch die übrigen Bewohner des Judenhauses auf dem Boden. Jetzt erinnerte sich Oppenheimer vage daran, in der Nacht eine Sirene gehört zu haben. Es musste wieder einen Bombenangriff gegeben haben. Doch draußen war es still. Totenstill.
Oppenheimer hatte vielleicht noch nie so wenig Nachtruhe bekommen wie in den letzten Monaten. Und dennoch, trotz des Schlafentzugs der Bewohner funktionierte die Stadt nach wie vor. Alles lief seinen gewohnten Gang, die Ämter öffneten, die Post wurde ausgetragen, meistens funktionierten sogar Strom- und Wasserversorgung. Oppenheimer dachte daran, dass bald wieder Vollmond war. Die Angriffe wurden dann seltener. Für ein paar Tage wäre es wieder möglich, die Nacht durchzuschlafen und nicht halb angekleidet in den Keller hasten zu müssen. Wenige Zentimeter von ihm entfernt blinzelte Lisa ihn an.
»Wieder wach?«, erkundigte sie sich.
Oppenheimer nickte. »Habe ich lange geschlafen?«, raunte er ihr zu.
»Vielleicht eine halbe Stunde. Du hast ganz schön um dich geschlagen.«
»Hm«, brummte er. Dann lehnte er sich gegen die Wand. Es war merkwürdig, doch an den Traum, der eben noch so präsent gewesen war, konnte er sich schon nicht mehr erinnern. Schließlich räusperte er sich. »Ich frage mich, ob es unpatriotisch ist«, wisperte er.
Als Lisa ihn mit fragendem Blick anschaute, sah er sich gezwungen, ihr zu erklären, was ihm durch den Kopf gegangen war. »Jedes Mal, wenn ein Fliegerangriff stattfindet, bin ich entsetzt, aber auf der anderen Seite hoffe ich auch, dass sie siegen. Das ist doch widersinnig, nicht wahr? Vielleicht liegt es ja daran, dass ich nicht zum deutschen Volk gehöre.«
Auch Lisa setzte sich auf. »Wenn du so von dir denkst, dann spielst du ihnen in die Hände. Ich kenne wenige Leute, die deutscher sind als du. So etwas wie die jüdische Rasse existiert nicht. Bei mir auf der Arbeit gibt es viele Leute, die ebenfalls hoffen, dass die Nazis verlieren. Und das sind Katholiken und Protestanten. Und sie stellen sich genau dieselbe Frage. Ich glaube nicht, dass es unpatriotisch ist, sich die Niederlage zu wünschen. Die Nazis sind schließlich nicht Deutschland.«
Als Oppenheimer später in der Nacht wieder auf dem Boden lag und an die Decke starrte, ging ihm dieser
Weitere Kostenlose Bücher