Germania: Roman (German Edition)
befürchtet, in der Nähe der Kameradschaftssiedlung eine Gaststätte suchen zu müssen, die auch ohne Lebensmittelkarten ein sogenanntes Stammgericht anbot. Und dann wäre noch das kleine Detail zu klären gewesen, dass ihn die Wirtsleute als Juden offiziell nicht verköstigen durften. Doch bereits am ersten Tag, als Oppenheimer eine Liste der Friedhöfe zusammengestellt hatte, war Hoffmann gegen Mittag mit einem dicken Fresspaket erschienen. Auch als sie die nächsten Tage über unterwegs waren, hatte er stets reichlich belegte Butterbrote dabei. Da Oppenheimers Nahrung in den letzten Monaten im Wesentlichen aus Kartoffeln bestanden hatte, war dies ein Bonus, den er gerne in Anspruch nahm.
Jetzt war es bereits Freitag, kurz vor dem Wochenende. Oppenheimer fragte sich, ob von ihm wohl erwartet wurde, dass er durcharbeitete. Den Obduktionsbericht hatten sie bislang noch nicht bekommen. Offenbar war die Verwaltung der Kriminalbehörden durch die Bombardierungen stärker beeinträchtigt, als Vogler erwartet hatte. Da die Ämter ihre Dokumente mittlerweile von Kindern gegen ein Taschengeld per Fahrrad transportieren ließen, war es nicht verwunderlich, dass gelegentlich ein Schriftstück verlorenging. Mittlerweile war Oppenheimer mit seiner Suche auf den Friedhöfen in Neukölln angelangt. Zwar lag der Stadtteil mehrere Kilometer vom Fundort der Leiche entfernt, doch er hatte beschlossen, gründlich vorzugehen. Den Tag über hatte er sich die Hermannstraße entlanggearbeitet. Oppenheimer kannte das Terrain. Hier gab es auf engstem Raum eine Ansammlung von nicht weniger als acht Friedhöfen. Auf schmalen Grundstücken drängten sie sich südlich der U-Bahn-Station Leinestraße dicht aneinander. Den Kirchhof der Jerusalemskirche hatte er sich für seine letzte Visite an diesem Tag aufbewahrt. Oppenheimer rechnete damit, dass es länger dauern könnte, weil er dort jemanden besuchen wollte.
Nachdem er problemlos den Verwalter gefunden und bei ihm die üblichen Erkundigungen eingeholt hatte, besichtigte er das Gelände. Er begegnete dabei einigen Arbeitern, die mit geschulterten Spaten auf eine Erdgrube zuhielten. Bei näherem Hinsehen entdeckte Oppenheimer, dass es der Krater einer Explosion sein musste. Der Friedhofsverwalter hatte ihm erklärt, dass sie häufig getroffen wurden, da gleich nebenan der Flughafen Tempelhof lag, der ein bevorzugtes Ziel war.
Oppenheimer konnte nicht sagen, ob dieser Treffer vom gestrigen Tagesangriff herrührte. Zumindest waren die Aufräumarbeiten noch im Gange. Zwischen Büschen standen Särge, die wieder eingegraben werden mussten.
»Würden Sie mich kurz allein lassen?«, bat Oppenheimer. Hoffmann blieb vor dem nächstbesten Grab stehen und mimte einen Trauernden. Er tat dies mit der typischen Diskretion, die es wohl nur im Repertoire von SD-Männern gab, zu deren wichtigsten Aufgaben es zählte, die Bevölkerung auszuspionieren.
Es war schon lange her, seit Oppenheimer Sonjas Grab das letzte Mal besucht hatte. Sie war Sekretärin im Kriminaldezernat gewesen. Fast jeden Morgen kam Sonja zu spät zur Arbeit und hastete zu ihrem Büro. Trotzdem hatte sie immer ein Lächeln für ihn übrig, wenn er sie gelegentlich zu Dienstbeginn im Gang traf. Mit der Zeit legte es Oppenheimer geradezu darauf an, ihr morgens im Korridor zu begegnen. Und irgendwann wurde plötzlich mehr daraus.
Dass Oppenheimer jetzt hier stand, war wohl nur ein erneuter Beweis seiner Unzulänglichkeit. Möglicherweise wäre dies alles nicht geschehen, wenn damals seine Tochter noch gelebt hätte. Manche Paare schweißte ein solcher Verlust zusammen, doch Oppenheimer und Lisa hatten sich in den Monaten nach Emilias Tod auseinandergelebt. Oppenheimers Verhältnis mit Sonja war eine Episode gewesen, die er immer noch bereute. Doch Lisa und er schafften es schließlich, ihre Ehe zu retten, obwohl dies eine ganze Weile gedauert hatte. Eigentlich hatten er und Lisa erst wieder zueinandergefunden, als draußen bereits der braune Terror auf den Straßen tobte.
Als er auf Sonjas Grabstein blickte, war er sich nicht sicher, was er hier überhaupt tat. Gräber hatten schon immer diese Wirkung auf ihn gehabt. Sie waren nichts anderes als willkürlich gewählte Orte. Oppenheimer sagte sich, dass die Menschen diese Plätze und alten Rituale brauchten, um die Illusion zu haben, den Toten nahe zu sein. Er selbst konnte dies nicht nachvollziehen und allenfalls feststellen, dass es bei ihm nicht funktionierte. Dennoch stand er nun
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