Germania: Roman (German Edition)
einem der Wärter etwas aufgefallen. Wenn Sie mich fragen, ob es möglich ist, dass bei uns Leichen verschwinden, dann muss ich antworten: Ja, es ist möglich, und es würde höchstwahrscheinlich nicht auffallen.«
Die Toten lagen im Kühlraum. Zwischen ihnen bewegten sich schwarz gekleidete Gestalten in einer ungeordneten Prozession. Sorgenvolle Blicke suchten nach dem Bruder, dessen Wohnung ausgebombt worden war, nach der Ehefrau, deren Arbeitsplatz zum Flammenmeer wurde, nach dem Kind, das schon seit Tagen nicht mehr zum Mittagessen erschienen war. Dazwischen sah man aber auch immer wieder frohe Mienen. Angehörige, die wieder Mut schöpften, da sich ihre Befürchtung nicht bestätigt hatte, bis sie die nächste Leichenhalle betraten, um einen geliebten Menschen zu suchen.
Oppenheimer sah, wie ein schmächtiger Mann durch einen Vorhang trat. In seinem Gesicht spiegelte sich weder Hoffnung noch Bangen, vielmehr biss er genüsslich ein Stück seines Priems ab. Unzweifelhaft gehörte er zum Inventar.
»Sind Sie der Wärter hier?«
Der Mann beäugte abschätzig den gelben Stern auf Oppenheimers Mantel, dann zog er einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln hoch.
»Na kieke mal eener an! Euch gibt es ooch noch hier.« Darüber hinaus wollte er anscheinend nichts mehr sagen. Hoffmann griff an dieser Stelle ein. Nachdem er dem Wärter die Lage erklärt und ihn zur Kooperation aufgefordert hatte, beantwortete dieser schließlich Oppenheimers Fragen. Doch das feindselige Glitzern in seinen Augen blieb.
Bald merkte Oppenheimer, dass er sich das Gespräch ebenso gut hätte sparen können. Es war im Prinzip nichts weiter als eine Wiederholung der Angaben, die er schon bei der Friedhofsverwaltung bekommen hatte. Die Leichenhalle wurde in der Regel um fünf Uhr nachmittags abgesperrt. Ebenso die vergitterte Eingangspforte zum Friedhofsgelände. Gelegentlich wurde bei Nachtangriffen außerhalb der gewöhnlichen Betriebszeiten aufgeschlossen, um die Lastwagen passieren zu lassen, auf denen der SHD die Bombenopfer anlieferte.
»Könnte sich dabei jemand mit einschmuggeln?«, wollte Oppenheimer wissen.
»Dit is schon möglich«, antwortete der dürre Friedhofswärter vage. »Ick kenn die Leute nich, die da so mitfahrn.«
Oppenheimer wurde klar, dass diese Hypothese wohl eine Sackgasse war. Er konnte sich daran erinnern, dass es in den letzten Wochen zwar gelegentlich einen nächtlichen Alarm gegeben hatte, doch Bomben waren nur bei den Tagesangriffen gefallen. Und dass jemand bei Tageslicht eine Leiche unbeobachtet vom Friedhofsgelände schmuggeln konnte, schien eher unwahrscheinlich.
Der Wärter spuckte seinen Tabak aus. Wie durch Zufall landete die braune Brühe nur wenige Zentimeter von Oppenheimers Schuh entfernt auf den Boden. Er blickte ins Gesicht des Mannes, doch der gab sich demonstrativ unbeteiligt.
»Was ist hinter diesem Vorhang?«, wollte Oppenheimer wissen.
Der Wärter drehte sich kurz um und grinste dann. »Dit is unsere Spezialabteilung. Ick gloob, dit wolln Se nich sehn. Da liegen die Zerfetzten. Wir ham se in allen Formen und Farben.«
Herausfordernd blickte der Mann Oppenheimer an. Es war ein kindisches Spielchen. Was sich dort hinten befand, war für die Untersuchung unwichtig, doch gleichzeitig missgönnte er dem Wärter den Triumph, wenn er einen Rückzieher gemacht hätte. Außerdem konnte es Oppenheimer nicht ausstehen, wenn jemand versuchte, ihn einzuschüchtern. Ohne lange zu überlegen, schritt er kommentarlos durch den Vorhang.
6
Freitag, 12. Mai 1944
D ie folgenden Tage war Oppenheimer damit beschäftigt, noch weitere Friedhöfe aufzusuchen. Bei allen sah es ähnlich aus. Wenn sie eine spezielle Leichenkammer hatten oder eine Kapelle, in der die Toten aufgebahrt wurden, dann war sie normalerweise außerhalb der Besuchszeiten abgesperrt. Oppenheimer erstellte schließlich eine Liste mit den Zulieferfirmen für die Friedhöfe, Adressen von Sargtischlern und Blumenhändlern. Die Angestellten dieser Firmen waren potenzielle Verdächtige. Der nächste Schritt bestand darin, zu klären, wer ein Fahrzeug besaß, in dem man problemlos eine Leiche transportieren konnte. Doch als die Liste wuchs und wuchs, musste sich Oppenheimer schon am Freitag eingestehen, dass es ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen war, auf diesem Weg etwas herausfinden zu wollen.
Wenigstens hatte sich in der Zwischenzeit die Frage geklärt, wo er tagsüber etwas zu essen herbekommen sollte. Oppenheimer hatte schon
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