Germania: Roman (German Edition)
immer bei sich tragen konnte, wenn er bei einem Luftangriff in den Keller musste. In Berlin sah man viele solcher Koffer.
»Den werden Sie nicht brauchen«, sagte der SD-Mann und winkte ihn zurück. Oppenheimer drehte sich um und stellte den Koffer in die unbeleuchtete Küche.
Vor dem Hauseingang warteten zwei Männer von der SS mit Gewehren in den Händen. Sobald der SD-Mann Oppenheimer auf den Gehsteig geschoben hatte, setzten sie sich in Bewegung. Wolken verbargen den Nachthimmel. Der dahinterliegende Mond war nicht mehr als ein diffuses Leuchten, das sich stumpf auf den Stahlhelmen der SS-Männer brach. Oppenheimer starrte beklommen auf die grauen Rücken, die sich im Gleichtakt bewegten, und hörte dabei das metallische Klappern ihrer Karabiner. Was konnte er nur tun? Gab es eine Fluchtmöglichkeit? Noch im selben Augenblick verwarf Oppenheimer diesen Gedanken. Solange er den Mann vom Sicherheitsdienst mit seiner Feuerwaffe im Nacken hatte, konnte er nichts unternehmen.
Sie gelangten zu einem Auto, das diskret in der nächsten Seitenstraße geparkt war. Die hintere Tür wurde geöffnet, und Schwärze umfing Oppenheimer.
Die letzten Tage war es in Berlin unüblich ruhig gewesen. Auch in dieser Nacht hatte es noch keinen Fliegeralarm gegeben. Doch jeder wusste, dass die Stille trügerisch war. Irgendwann würden die Flugzeuge wieder kommen. Unzählige Bomben hatten Gebäude zerstört und die Reichshauptstadt in eine Welt aus Schutt und Asche verwandelt. Neue Lücken in den Häuserreihen zeugten von den jüngsten Kämpfen. Die Einwohner hatten sich längst an die ständigen Veränderungen gewöhnt. In Berlin war das Leben schon immer sehr hektisch verlaufen, doch selbst nach diesen Maßstäben war der Bauwahn, der nach Hitlers Machtergreifung um sich gegriffen hatte, außergewöhnlich. Die Narben waren allerorts zu besichtigen. Die nationalsozialistischen Herrscher ließen die schönsten Plätze der Innenstadt zu Aufmarschflächen planieren, sie versetzten Brunnen und Denkmäler, hatten sogar in einer wahren Herkulesanstrengung die Siegessäule vom Reichstag mitten in den Tiergarten zum Großen Stern umgesetzt.
Als Oppenheimer während der Autofahrt aus dem Seitenfenster blickte, fuhr er plötzlich zusammen. Für einen kurzen Moment hatte er geglaubt, dass ihm ein verschrecktes Gesicht entgegenstarrte. Doch bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass ihm das Mondlicht einen Streich gespielt hatte. Die eingefallenen Wangen und die tief in den Höhlen liegenden Augen gehörten Oppenheimer selbst. Als er realisierte, dass er sich tatsächlich vor dem Spiegelbild seines eigenen Gesichts erschrocken hatte, kam er sich töricht vor.
Draußen glitt der haushohe Sockel der Siegessäule an ihnen vorbei. Der SS-Mann am Steuer des Wagens bog nach links ab, hielt auf der Ost-West-Achse direkt auf die Stadtmitte zu. Nach einer Weile fuhren sie durch das Brandenburger Tor. Oppenheimer hatte keine Mühe, sich trotz der Dunkelheit zu orientieren. Er kannte hier sogar die hintersten Winkel und brauchte nicht in die Luft zu blicken, um zu wissen, dass über ihren Köpfen steinerne Schwingen vorbeirauschten, die weit in die Nacht griffen.
Unter den Linden hieß der Straßenzug, den sie durchfuhren, doch Hitlers Baumeister hatten diese Bezeichnung bereits vor etlichen Jahren ad absurdum geführt. Sie hatten nichts Besseres zu tun gewusst, als die alten Bäume zu fällen, um Platz zu machen für unzählige Marmorsäulen, auf denen jetzt eine Formation von Reichsadlern thronte. Die jungen Linden, die man daraufhin neu gepflanzt hatte, wirkten in ihrer Zwergenhaftigkeit wie ein schlechter Witz.
Großer Jubel war hier zu hören gewesen, als die vom Völkerbund kontrollierten Gebiete wieder dem Deutschen Reich angegliedert wurden, noch größere Euphorie herrschte, als die ersten Erfolge an der Front verkündet wurden und die deutsche Wehrmacht von Sieg zu Sieg ganz Europa durcheilte.
Doch die lautstarke Zustimmung war zunehmend verhallt, als die Bomben fielen.
Und dann kam Stalingrad.
Das militärische Debakel in der Weite der russischen Steppe hatte den Geschmack des Erfolges schal werden lassen und das Vertrauen in die gut geölte, deutsche Kriegsmaschinerie nachhaltig untergraben.
Wenn die Sonne schien, überstrahlten Hitlers blendend weiße Marmorsäulen auch jetzt noch die Innenstadt, doch in der Nacht verwandelten sie sich auf unheimliche Weise in einen Schattenwald inmitten einer Geröllwüste, durch den sich
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