Germania: Roman (German Edition)
hat, oder ob er sie schon länger im Visier hatte.«
»Gehen Sie davon aus, dass diese Tat im Voraus geplant war.«
Die Bestimmtheit, mit der Vogler diese These betonte, ließ Oppenheimer aufhorchen. »Wie kommen Sie darauf?«, fragte er.
»Ich denke …«, setzte Vogler an. Für eine Sekunde wirkte er ertappt. »Ich denke, für unsere Untersuchung dürfte es das praktischste Verfahren sein.«
Oppenheimer tat so, als hätte er Voglers Unsicherheit nicht bemerkt. »Vielleicht haben Sie recht.«
»Wir treffen uns Montag früh und beratschlagen über das weitere Vorgehen.« Vogler winkte seinen Wagen heran, der am Straßenrand gestanden hatte. Als er die hintere Tür öffnete, blickte er Oppenheimer noch einmal kurz an. »Und hören Sie, solange Sie an dieser Untersuchung beteiligt sind … Ich denke, es wäre besser, wenn Sie dabei keinen Judenstern tragen.« Den letzten Satz hatte er nur halblaut hinzugefügt.
Oppenheimer runzelte die Stirn ob dieser unerwarteten Anweisung. Um sich zu vergewissern, fragte er: »Sie sagen, dass ich den Stern abnehmen soll?«
»Dies ist eine Untersuchung, bei er wir mit äußerster Diskretion vorgehen müssen. Sie fallen mit den Ding ja auf wie ein bunter Hund.«
»Tja, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Wenn jemand deswegen nachfragt, kann ich mich dann auf Sie berufen?«
»Haben Sie’s noch nicht kapiert? Das ist ein Befehl!« Damit warf Vogler die Autotür zu. Als das Fahrzeug wegfuhr, wandte sich Oppenheimer Hoffmann zu, der wenige Meter entfernt mit dem Motorrad wartete.
»Befehl ist Befehl. Sie sind Zeuge«, sagte Oppenheimer, zuckte mit den Schultern und entfernte den Judenstern von seinem Mantel. Hoffmanns ausdrucksloses Gesicht verriet, dass ihm das Ganze im höchsten Maße egal war.
7
Sonntag, 14. Mai 1944
D as gemächliche Treiben in der Berliner Vorstadt Marienfelde musste jedem, der in der geschäftigen Stadtmitte der Reichshauptstadt lebte, fremd vorkommen. Und an diesem Sonntagmorgen wirkte der kleine Ort besonders verschlafen. Im Zwielicht der Dämmerung flanierte eine einsame Gestalt durch den Dorfkern. Ein ungewohnter Anblick für die ersten Kirchgänger, zumal es sich dabei um einen Hauptsturmführer der SS handelte. Doch von den Einwohnern hätte wohl kaum jemand vermutet, dass den Besucher ausgerechnet ein Mordfall hierhergeführt hatte.
Vogler knöpfte seinen Mantel auf. Der Himmel war wolkenlos. Sicher würde die Sonne die morgenkühle Luft bald erwärmen. Doch diese Frische war nichts verglichen mit dem beißenden Frost, den er an der Ostfront kennengelernt hatte. Vogler ging in Gedanken durch, was Oppenheimer am Fundort in Oberschöneweide gesagt hatte. Er hatte den ehemaligen Kommissar in den letzten Tagen genau beobachtet, um von ihm zu lernen. Nun versuchte Vogler, die dadurch gewonnenen Erkenntnisse in der Praxis nachzuvollziehen. Zuerst begann er damit, dass er nach den Parallelen zwischen Oberschöneweide und Marienfelde suchte. An beiden Orten gab es einen Gedenkstein, in dessen Nähe sich einige Bäume und eine Kirche befanden.
Und sowohl in Oberschöneweide als auch in Marienfelde hatte man an dieser Stelle eine ermordete Frau aufgefunden.
Vogler stand auf dem spitz zulaufenden, grünen Rasen, an dem sich die Dorfstraße gabelte. Aufmerksam musterte er die Umgebung, dann blickte er auf seine Armbanduhr. Halb acht. Fast zur selben Tageszeit hatte man hier, etliche Monate vor dem Fall Friedrichsen, die Leiche entdeckt. Immer mehr Kirchgänger näherten sich dem Gotteshaus. Oppenheimer hatte gesagt, dass eine Kamera nicht alles abbilden konnte. Vogler wäre froh gewesen, wenn es vom Leichenfund in Marienfelde überhaupt Photos gegeben hätte. Allerdings hatte damals noch niemand die SS eingeschaltet, was vielleicht erklärte, dass sich kaum jemand ernsthaft die Mühe gemacht hatte, diesen Todesfall aufzuklären.
UNSEREN TEUREN GEFALLENEN UND IM KRIEGE GEBLIEBENEN ZUM GEDENKEN, stand am Kopf des Steinungetüms, das sich vor Vogler emporreckte, an den Seiten waren unzählige Namen nach Jahren geordnet in die Oberfläche eingraviert. Eine drei Meter hohe Buschreihe schirmte das Monument ab, doch unmittelbar dahinter lag nur ein Teich, und wenige hundert Meter weiter stand das einfache Kirchengebäude, das mit seinen groben Mauersteinen ausgesprochen mittelalterlich wirkte. Das einzige weitere Bauwerk, das zwischen den gedrungenen Häusern in die Höhe ragte, befand sich zu Voglers Rechten auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Weitere Kostenlose Bücher