Germania: Roman (German Edition)
Tagen entronnen zu sein. Doch der Mann mit dem Sommerhut stand bewegungslos da. Er war die einzige Gestalt, die an diesem geschäftigen Treiben nicht teilnahm.
Vielleicht täuschte sich Oppenheimer. Jedenfalls beschloss er, die Probe aufs Exempel zu machen. Anstatt die Kolonnenbrücke zu überqueren, verließ er den Bürgersteig und schlug sich ins Dickicht. Bis zu den Gleisen der S-Bahn waren es nur wenige Meter. Zwischen widerspenstigen Büschen kletterte Oppenheimer den Abhang hinunter und verfluchte dabei seine maroden Schuhsohlen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass kein Zug kam, lief er über die Schienen und hielt schnurstracks auf die gegenüberliegende Böschung zu. Oppenheimer bemerkte, wie sehr er aus der Übung war. Schon nach wenigen Schritten fing er an zu keuchen, und als er sich umblickte, während er sich an einem Strauch den gegenüberliegenden Hang emporzog, erkannte er, dass es seinem Verfolger keinesfalls besser erging.
Der Mann mit dem Sommerhut stolperte über den Schotter der Gleise und fluchte leise vor sich hin. Also hatte sich Oppenheimer doch nicht getäuscht. Aber anstatt den Triumph auszukosten, seinen Verfolger so leicht enttarnt zu haben, nahm er seine Kräfte zusammen und kämpfte sich schwitzend die Böschung hoch.
Grau türmte sich der runde Betonblock auf, der Oppenheimers Ziel war. Als er das Gebilde zum ersten Mal erblickt hatte, war er davon ausgegangen, dass es ein Hochbunker oder Wasserspeicher sei. Doch Hilde hatte ihm später lachend erklärt, dass dieser unansehnliche Klotz von Albert Speer höchstselbst in die Landschaft gesetzt worden war. Da in der Nähe der gigantische Triumphbogen errichtet werden sollte, hatten die Statiker Bedenken angemeldet, ob der Berliner Grund die monumentalen Bauwerke überhaupt tragen konnte, die im Kopf des Führers herumspukten. Also hatte man aus mehreren Kubikmetern Beton diesen Block gegossen, um zu prüfen, wie tief er absinken würde.
So flink, wie es ihm möglich war, überquerte Oppenheimer die General-Pape-Straße und hielt direkt auf den Belastungskörper zu. Der umliegende Lattenzaun bot eine ideale Deckung. Er lief daran entlang, bis er zu einer Stelle kam, von der aus er zwischen den Latten hindurch die gegenüberliegende Böschung beobachten konnte.
Es dauerte nicht lange, bis der Mann mit dem Sommerhut erschien. Er blickte sich um. Dann nahm er keuchend die Kopfbedeckung ab und wischte über seine glänzende Stirn. Er mochte vielleicht Mitte dreißig sein und war schlank, wobei sich das Hemd jedoch im Bereich des Bauches verdächtig spannte. Er war zweifelsohne die ideale Besetzung für einen unauffälligen Beobachter. Er blickte die General-Pape-Straße hinauf und hinab.
Erschrocken wich Oppenheimer zurück. Etwas schien die Aufmerksamkeit des Mannes auf den Betonklotz gelenkt zu haben. Während Oppenheimer versuchte, seinen Atem anzuhalten, lauschte er angestrengt. Zögernde Schritte näherten sich. Hatte der Verfolger ihn gesehen? Wollte er ihn aus seinem Versteck treiben? Schweiß trat auf Oppenheimers Stirn. Langsam ging er rückwärts, stets darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Fieberhaft blickte er um sich, suchte nach einem Ausweg.
Plötzlich ein Knarren. Oppenheimer fuhr zusammen.
Zwei der Latten waren lose, hingen nur an einem einzigen Nagel. Oppenheimer überlegte nicht lange. Er schob die Bretter beiseite und quetschte sich durch die Öffnung. Der Sockel des vor ihm liegenden Betonklotzes hatte einen geringeren Umfang, um die Punktlast zu erhöhen. Die so entstandene Nische unter dem Klotz war gerade mal so hoch, dass man darunter stehen und nahezu unbemerkt aus dem Schatten heraus die Umgebung beobachten konnte.
Als Oppenheimer in der Nische abtauchte, atmete er auf. Doch bald kam ihn in den Sinn, dass er sich hier in trügerischer Sicherheit befand. Er hatte keine Ahnung, ob es im Zaun noch einen weiteren Durchgang gab. Wenn sein Verfolger auf die Idee kam, ausgerechnet diese Nische abzusuchen, saß er in der Falle.
Vorsichtig trat Oppenheimer einige Schritte zurück, bis er mit dem Rücken gegen den runden Betonsockel stieß. Irgendwo ertönte ein Keuchen, wurde lauter. Es war der Mann mit dem Sommerhut. Langsam schlich dieser den Zaun entlang und versuchte dabei erfolglos, seinen Atem zu kontrollieren. Schließlich blieb er stehen und starrte durch den Lattenzaun. Dann räusperte er sich unzufrieden und reckte sein Kinn in die Höhe. Anscheinend überlegte er, ob es möglich war, auf die
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