Germania: Roman (German Edition)
darauf folgte auch schon die Enttäuschung. Unmittelbar nach seiner Ankunft hatte man ihm ausgerechnet diesen lächerlichen Mordfall zur Aufklärung übergeben, anstatt ihm wichtigere Aufgaben zu übertragen. Und um ihn noch weiter zu beschämen, musste er dabei mit dieser Filzlaus namens Graeter zusammenarbeiten. Im Gefecht hatte sich Vogler lebendig gefühlt, doch hier an der Heimatfront kam er sich zunehmend unnütz vor. Um es noch schlimmer zu machen, hatten er und Graeter mittlerweile drei Monate vergeudet, ohne Resultate zu liefern. Und je weiter die Zeit voranschritt, desto größer wurde auch der Druck, der auf sie ausgeübt wurde. Dass Vogler schließlich Oppenheimer zu Rate gezogen hatte, war ein Verzweiflungsakt gewesen, ein letzter Strohhalm, nach dem er gegriffen hatte.
Trübsinnig blickte Vogler nochmals zur Fleischerei hinüber. Über den Fenstern im ersten Stockwerk hatte man als Dekoration steinerne Gesichter an der Hauswand befestigt, die starr auf den Fundort der Leiche blickten. Vogler fragte sich, was sie in der entsprechenden Nacht wohl gesehen hatten.
Mittlerweile standen fast alle Dorfbewohner vor der Kirche. Bald würde die Morgenandacht beginnen. Vogler nahm die neugierigen Blicke wahr. Gelegentlich hob ein Passant im Vorbeigehen seinen Arm zum Hitlergruß, aber Vogler spürte angesichts dieser Normalität eine unüberbrückbare Kluft. Er hatte in seinem Leben bereits zu vieles gesehen, um sich an dieser Dorfidylle erfreuen zu können. Die letzten Jahre hatte er fast ausschließlich im Ausland verbracht. Doch das Bild, das er sich dort von der Heimat gemacht hatte, entsprach nicht der Realität. Seine Volksgenossen waren keineswegs so heroisch, wie er sich das vorgestellt hatte. In seinen Augen waren es stumpfsinnige Gestalten, die sich nur um ihre kleinen Nichtigkeiten kümmerten, die belanglose Leben führten. Hatte er tatsächlich für sie gekämpft? Für diese alten Männer mit den eingefallenen Wangen, für diese Frauen, deren Röcke an den Seiten zu lang waren, weil ihre Hüften abgemagert waren? Als sich Vogler fragte, was die stolze germanische Rasse von den verhärmten Gestalten unterschied, die er in Polen und Russland gesehen hatte, stieg eine große Beklommenheit in ihm auf. Man hatte ihm in den letzten Monaten eine zu starke Dosis an Realität verabreicht. Er wusste, dass er es in der Heimat nicht mehr lange aushalten würde.
An diesem Sonntag hatte Oppenheimer die Route entlang der Potsdamer Straße gewählt, um Hilde seinen allwöchentlichen Besuch abzustatten. Seit seiner ersten Begegnung mit Vogler war er vorsichtig geworden. Jedes Mal, wenn er sich nun mit seiner guten Freundin traf, ging er eine andere Straße entlang und nahm dabei auch so manchen Umweg in Kauf. Es war ein alter Trick, um sicherzugehen, dass er nicht beschattet wurde. Letztes Mal hatte sich Oppenheimer wegen des schrecklichen Wetters regelrecht zu seinen taktischen Täuschungsmanövern zwingen müssen. Doch nun, da es zu regnen aufgehört hatte und die Kälte nicht mehr die Hosenbeine emporkroch, genoss er den Spaziergang. Die Luft war angenehm. Einen größeren Kontrast zu der muffigen Enge des Judenhauses konnte er sich kaum vorstellen. Heiter schritt er an blühendem Klatschmohn vorbei, der die Wiesen mit grellroten Flecken verzierte, und begutachtete die Fliedersträucher, an denen wie durch Zauberhand plötzlich große Tupfer in Weiß hingen. Bislang war sich Oppenheimer relativ sicher gewesen, nicht verfolgt zu werden. Doch ausgerechnet an diesem lauschigen Frühlingstag sollte sich dies ändern.
Oppenheimer bog in die Kolonnenstraße ein, als er hinter sich etwas wahrnahm. Er konnte zunächst nicht genau sagen, was es war, doch als er innehielt und so tat, als müsse er seinen Schnürsenkel zubinden, nahm er aus den Augenwinkeln eine Gestalt wahr, die ebenfalls stehen blieb, um dann demonstrativ auf die Taschenuhr zu schauen. Auf den ersten Blick war es lediglich ein unscheinbarer Mann mit einem luftigen Sommerhut auf dem Kopf. Schließlich zog Oppenheimer die Anzugjacke aus und wischte mit einem Taschentuch gemächlich den Schweiß vom Nacken. Um ihn herum strömten Ausflügler zur S-Bahn-Station, ganze Familien drängten an ihm vorbei, eine Gruppe kichernder BDM-Mädchen im obligatorischen dunkelblauen Rock, mit weißem Hemd und schwarzem Halstuch, zweifelsohne auf dem Heimweg von der weltanschaulichen Wochenendschulung und immer noch darüber erleichtert, ihren Eltern an diesen sonnigen
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