Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Gilbers
Vom Netzwerk:
Es verfügte über drei Stockwerke und besaß gar den außerordentlichen Luxus eines steinernen Balkons. Obwohl das Gebäude wie ein respektables Wohnhaus aus der Zeit der Jahrhundertwende aussah, war im Untergeschoss eine Fleischerei einquartiert. Zwar kam Vogler ursprünglich aus dem Hunsrück, doch er fand, dass es in Marienfelde ganz ähnlich aussah wie bei ihm daheim. Auch hier verspürte er jene spezielle Kleinstadtatmosphäre, die bei ihm stets ein Gefühl der Bedrückung ausgelöst hatte.
    Frustriert seufzte Vogler, als er bemerkte, dass seine Gedanken abschweiften. Er musste sich eingestehen, dass er zwar seine Umgebung wahrnahm, doch nicht den Hauch einer Ahnung hatte, welche Schlüsse er daraus ziehen sollte. Es war nicht mehr als ein Bauchgefühl gewesen, das ihn hierhergetrieben hatte. Obwohl es nur wenige konkrete Hinweise gab, ging Vogler mit einiger Sicherheit davon aus, dass die Fälle miteinander verbunden waren. Doch sein Entschluss stand fest, er wollte diese Information gegenüber Oppenheimer nicht preisgeben.
    Vogler fand, dass es am besten war, vermeintliche Respektspersonen nicht in alles einzuweihen. Allerdings hatte Oppenheimer als Jude zweifelsohne schon lange keinen Respekt mehr genossen. Genau deswegen hatte Vogler ihn ja unter den anderen Kommissaren ausgewählt. Dass er Oppenheimers Leben in der Hand hatte, war zugleich eine Garantie dafür, dass er ihn unter Kontrolle haben würde.
    Vogler zündete sich eine Zigarette an. Obwohl er nicht viel verrichten konnte, fiel es ihm schwer, diesen Ort wieder zu verlassen. Ausgerechnet hier hatte er endlich wieder die Ruhe gefunden, die ihm in den letzten Jahren abhandengekommen war.
    Vogler überlegte, inwiefern Oppenheimer seinem Vater ähnelte, dem verknöcherten Lateinlehrer, der die ganze Familie terrorisiert hatte und der sich stets so furchtbar wichtig nahm. Vogler senior hatte vor etlichen Jahren einen großen Aufstand gemacht, als der Filius dem Deutschen Jungvolk beigetreten war, hatte in seiner Verbohrtheit darauf bestanden, dass der Sohn wieder austreten sollte. Aber dieser hatte daraufhin den Spieß umgedreht und seinen Vater bei der örtlichen SA-Rotte angeschwärzt. Nur wenige Tage später waren sie dann gekommen, um den Alten über Nacht in Gewahrsam zu nehmen.
    Und es hatte gewirkt.
    Als sie den Vater am nächsten Morgen wieder laufenließen, hatte er sich für immer verändert. Weil ihn die SA-Leute Rizinusöl trinken ließen, war er mit dem eigenen Kot besudelt. Sein Erzeuger, der so viel auf seinen Verstand gegeben hatte, musste erkennen, dass auch er einen Körper hatte. Im Nachhinein hatte Vogler begriffen, dass dies vielleicht die schwerste Demütigung gewesen war, die man seinem Vater hatte zufügen können. Danach war der ehemalige Patriarch nur noch ein Schatten seiner selbst, der sich nicht mehr traute, seinen Sohn zu maßregeln. Der sonore Bass, der so oft durch das Haus gedröhnt hatte, war endgültig verstummt. Vogler hatte seinen Vater gebrochen und zum ersten Mal das berauschende Gefühl verspürt, Macht über andere Menschen zu besitzen.
    Und der Nationalsozialismus bot ihm auch weiterhin die Möglichkeit dazu. Vogler verinnerlichte die Ideale der Bewegung, trat später der SS bei. Obwohl er bei seinen Vorgesetzten gelegentlich aneckte, hatte es seiner Karriere nicht geschadet. Denn kaum jemand konnte verhehlen, dass Vogler der geborene Krieger war, was vielleicht auch daran lag, dass er von den Parteiorganisationen zeit seines Lebens zu nichts anderem herangezogen wurde. An der Front war er zwar nicht gerade als Draufgänger aufgefallen, doch er hatte immer die erwünschten Resultate geliefert, weil er bei der Verfolgung seiner Ziele nicht einmal vor radikaler Brutalität zurückschreckte. Vogler hatte Leben vernichtet, Körper verletzt. Doch er fand, dass diese rücksichtslose Vorgehensweise aufgrund seiner guten Motive gerechtfertigt war. Mit seiner Kaltblütigkeit hatte er sich im Gefecht mehrfach ausgezeichnet, einer Beförderung folgte die nächste. Allerdings hatte Vogler nicht damit gerechnet, dass er seine Arbeit so gut verrichten würde, dass seine Vorgesetzten schließlich entschieden, ihn nach Berlin zu schicken, um ihn im Regimentsstab einzusetzen.
    Doch für Vogler war die jetzige Situation zu verwirrend, um sich geehrt zu fühlen. Jenseits der Front befand er sich auf ungewohntem Terrain. Als er in die Reichshauptstadt gekommen war, hatte er sich über die neuen Herausforderungen gefreut. Doch kurz

Weitere Kostenlose Bücher